»Unsinn?«, fragte Robin. »Was genau meinst du mit Unsinn?«
»Deine Ritterspielchen«, erwiderte Salim. Seine Stimme wurde keinen Deut lauter, aber merklich schärfer. Von einem Atemzug auf den anderen war aus dem berauschenden Moment ihres Wiedersehens etwas geworden, das Robin fast Angst machte. Es schien dunkler im Zelt zu werden. Und kälter.
»Spielchen«, wiederholte sie. »War es das, was ich die ganze Zeit für dich war? Ein Spielzeug?«
Blanke Wut blitzte in seinen Augen auf, aber er beherrschte sich. Nicht einmal seine Stimme wurde lauter. »Nein«, behauptete er, obwohl Robin in seinen Augen las, wie nahe sie der Wahrheit - zumindest in einem gewissen Sinne - damit gekommen war. Ein bitterer Geschmack war mit einem Mal in ihrem Mund.
»Nicht du. Aber das, was du tust. Ich habe dich bisher gewähren lassen, weil ich weiß, wie viel dir dieser alberne Wappenrock und ein Schwert bedeuten. Und ich weiß, wie gut du mit einer Waffe umzugehen verstehst. Besser als so mancher Mann, den ich kenne. Die Hälfte meiner Assassinen wäre dir nicht gewachsen. Aber in dieser irrsinnigen Schlacht, in die euer König euch heute führt, zählen ein Kettenhemd und ein gutes Schwert nicht viel. Viele Männer werden heute sterben, Männer, die stärker sind als du, tapferer und ebenso geübt mit ihren Waffen. Es ist eine Sache, deine Klinge in einen freundschaftlichen Kampf mit mir zu kreuzen oder auch einem einzelnen Mann in einem fairen Duell gegenüberzutreten, aber eine ganz andere, sich zehntausender Lanzenreiter gegenüberzusehen oder einem Hagel von Pfeilen. Selbst ich wäre ganz und gar nicht sicher, die Schlacht zu überleben oder auch nur ohne schwere Verwundungen davonzukommen. Ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben wegen eines albernen Schwurs riskierst.«
Er schüttelte noch einmal und noch heftiger den Kopf. Seine Stimme wurde eine Spur lauter. »Ich bin hergekommen, um dich zu holen, und ganz genau das werde ich jetzt tun. Wir werden dieses Lager und diesen Landstrich verlassen und nach Masyaf zurückkehren, und es wird keinen Bruder Robin mehr geben.«
Es fiel Robin immer schwerer, sich zu beherrschen. Natürlich hatte er Recht, mit jedem Wort, das er gesagt hatte. Und dennoch erfüllte sie der bloße Gedanke, einfach davonzulaufen, mit einem Gefühl von Scham, das fast körperlich wehtat. Hatten sie die Jahre, die sie mit Bruder Abbé verbracht hatte, so verändert? Obwohl sie das Leben bei den Templern - zumindest bis zu ihrer Ankunft in diesem Land - geliebt hatte und obwohl sie frühzeitig hatte lernen müssen, sich ihrer Haut zu wehren und ihr Leben auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, blieb sie doch eine Frau, die das Töten hasste und Gewalt und Kampf aus tiefstem Herzen verabscheute; gerade weil sie so oft erlebt hatte, welch unendliches Leid und wie viele bittere Tränen und tiefen Schmerz ein beiläufig erteilter Befehl, eine unbedachte Bewegung oder eine bloße taktische Entscheidung verursachen konnten. Vielleicht, dachte sie, hatte Salim ja gerade eine Wahrheit ausgesprochen, vor der sie bisher stets die Augen verschlossen hatte. Vielleicht war alles, was bisher geschehen war, für sie im Grunde nichts weiter als ein Spiel gewesen. Ein Spiel mit dem Feuer, das mehr als einmal lebensgefährlich geworden war, aber trotzdem nicht mehr als ein Spiel.
»Ich habe draußen einen Beutel mit Kleidern versteckt«, fuhr Salim fort, nachdem er eine Weile vergebens darauf gewartet hatte, eine Antwort von ihr zu bekommen. »Du wirst dich umziehen.«
Robin blickte an sich herab. Sie trug nichts außer der zerschlissenen dünnen Decke. Die scherzhafte Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, schluckte sie jedoch vorsichtshalber herunter, als sie Salims Blick begegnete.
»Deine Rüstung und dein Schwert nehmen wir mit«, fuhr Salim fort, »damit dein Verschwinden nicht sofort auffällt. Später können wir sie irgendwo vergraben. Meinetwegen kannst du sie auch behalten und dir als Andenken an die Wand deines Zimmers hängen, aber du wirst diese Kleider nie wieder tragen.«
Robin wagte nicht, zu widersprechen. Salim war nicht wirklich lauter geworden, auch nicht wirklich schärfer, doch in seiner Stimme war mit einem Male etwas, das jeden Gedanken an Widerspruch von vornherein ausschloss. Und er hatte ja Recht, dachte sie traurig. Sie hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen, und eigentlich grenzte es jetzt schon fast an ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte.
Salim nickte noch einmal, um seine Worte zu bekräftigen, dann setzte er dazu an, sein Hemd überzustreifen, und genau in dem Moment, in dem er die Arme über den Kopf hob, wurde die Zeltplane vor dem Eingang zurückgeschlagen, und Rother kam herein.
Für einen Moment war es Robin, als wäre die Zeit stehen geblieben. Der junge Ritter machte einen einzelnen, gebückten Schritt in das Zelt, hob dann den Kopf und erstarrte mitten in der Bewegung. Trotz des nur blassen Lichtes konnte Robin sehen, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich und seine Augen groß wurden. »Also doch ...«, flüsterte er.
Salim fuhr so heftig zusammen, dass das Hemd seinen Fingern entglitt und zu Boden fiel. Seine Hand zuckte zur Hüfte, wo er normalerweise sein Schwert trug, und er sprang in der gleichen Bewegung auf die Füße. Rother keuchte, prallte zurück und war dann ebenso schnell wieder aus dem Zelt verschwunden, wie er aufgetaucht war, und Salim setzte mit einem wütenden Knurren dazu an, ihm hinterherzustürmen.
»Salim! Nicht!«, keuchte Robin.
Salim machte einen weiteren Schritt und war schon fast aus dem Zelt heraus, prallte aber dann zurück und sah einen Moment lang so wütend aus, wie sie ihn noch nie zuvor erblickt hatte; aber auch unendlich verwirrt und hilflos.
»Was?« Seine Stimme war schrill. »Ich muss ihn aufhalten!«
»So?« Robin machte eine sprechende Kopfbewegung, und der Ausdruck von Hilflosigkeit auf Salims Gesicht nahm noch zu, als sein Blick ihrer Geste folgte und er an sich herabsah. Er war vollkommen nackt.
»Aber er hat uns gesehen!«, murmelte er. »Wenn er Alarm schlägt ...!«
Robin setzte sich mit einem Ruck auf. Die Decke glitt an ihr herab, aber sie zog sie mit einer instinktiven Bewegung wieder hoch; nur, um sie im nächsten Moment erneut fallen zu lassen. Rasch erhob sie sich von ihrer Lagerstatt und bückte sich nach ihrem Kleid.
»Verschwinde von hier«, sagte sie. »Schnell, bevor er tatsächlich Alarm schlägt und die anderen hier sind!«
Salim rührte sich nicht. Er sah sie nur fast erschrocken an.
»Bist du verrückt?«, murmelte er. »Wir müssen weg. Sofort!«
Robin schlüpfte mit einer raschen Bewegung in das grobe, baumwollene Unterkleid, das ihr gerade bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, beugte sich hastig vor und strampelte ihre Beine in die knielangen Leinenhosen und verknotete den einfachen, weißen Strick, der als Gürtel diente. »Verdammt!«, keuchte sie.
»Zieh dich endlich an und verschwinde von hier! Wenn er mit Verstärkung zurückkommt, haben wir sowieso keine Chance zu entkommen. Das ganze Lager wird uns suchen. Du kannst dich vielleicht in einen Schatten verwandeln, aber kannst du dich auch unsichtbar machen?«
Salim sah sie einfach nur weiter fassungslos an. Sie hatte ihn noch nie so hilflos und zornig zugleich wie jetzt erlebt. Auch Robin war der Panik nahe, schlüpfte aber dennoch mit einer sehr schnellen Bewegung in die beiden eng anliegenden Beinlinge, die sie über die Waden bis zum Oberschenkel hochzog. Um ihr Leibchen mit dem Gürtel der Hose zu verknoten, musste sie noch einmal ihr Hemd anheben. »Salim!«, sagte sie beschwörend.
»Du kannst nicht hier bleiben«, murmelte Salim. »Er hat uns gesehen.«
Er hatte weit mehr als das, dachte Robin betrübt. Er hatte Salim gesehen, einen Mann, den er zwar nicht von Angesicht kannte, aber da er nackt und breitbeinig auf ihrer Lagerstatt gesessen hatte, ganz eindeutig ein Mann, und er hatte auch sie eindeutig mit nichts als einer dünnen Decke bekleidet hinter ihm liegen gesehen. Vielleicht war es ja zu dunkel für seine Augen gewesen, um zu erkennen, was sie wirklich war, doch Robin hätte in diesem Moment nicht sagen können, welcher der beiden Eindrücke, die Rother gewonnen haben musste, in seinen Augen der schlimmere war. Vermutlich spielte es auch keine Rolle.