Sie angelte nach ihrem Kettenhemd, hielt aber dann mitten in der Bewegung inne und warf Salim einen weiteren, flehenden Blick zu, und endlich erwachte er aus seiner Erstarrung. Rasch bückte er sich nach seinem Hemd, streifte es über und wollte gerade nach seinem Mantel greifen, als von draußen schnelle, schwere Schritte näher kamen. Salim sah erschrocken zum Eingang hin - und war dann einfach verschwunden.
Obwohl Robin schon mehr als einmal erlebt hatte, wie schnell und lautlos er sich bewegen konnte, war sie für die Dauer eines Atemzuges so überrascht, dass sie einfach erstarrt dasaß und die Stelle anblickte, wo er gerade noch gewesen war. Etwas raschelte ganz leise, als Salim durch den Schnitt in der Rückwand des Zeltes verschwand, durch den ihr der unbekannte Attentäter in der Nacht den Skorpion hereingeschoben hatte. Sie hörte das Geräusch von reißendem Stoff, dann war er endgültig verschwunden, zusammen mit seinem Mantel, seinem Schwert und den Sandalen. Robins Herz machte einen erschrockenen Sprung in ihrer Brust, als sie sah, dass er seinen Turban zurückgelassen hatte. Hastig wollte sie sich danach bücken, doch es war zu spät. Die Plane vor dem Eingang wurde mit einem Ruck zurückgeschlagen, und zwei Gestalten betraten das Zelt. Bei einem der Männer handelte es sich um Rother, und Robin hätte um ein Haar laut aufgestöhnt, als sie den anderen erkannte.
»Ihr werdet zu spät zum Morgengebet kommen, Bruder Robin«, sagte Dariusz. »Habt Ihr den Weckruf nicht gehört?«
Robin spürte, wie sie zur Antwort den Kopf schüttelte, doch die Bewegung erfolgte nahezu ohne ihr Zutun. Dariusz! Wieso war er hier? Was wollte er? Sie hatte keinen Weckruf gehört, und es hatte auch keinen gegeben, und selbst wenn - ein Mann wie Dariusz würde ganz gewiss nicht durch die Zelte gehen und jeden einzelnen Ritter wecken, damit er das Gebet nicht versäumte. Ihr Herz begann zu hämmern. Plötzlich zitterten ihre Hände so heftig, dass das Kettenhemd in ihren Fingern leise klirrte, und sie hatte Mühe, sein Gewicht überhaupt noch zu halten.
Dariusz’ Blick glitt misstrauisch durch das Zelt, dann über ihr Gesicht und - für Robins Geschmack eindeutig zu lange und zu aufmerksam - über ihren Körper. Blieb er einen Herzschlag lang auf ihren Brüsten hängen? Sie trug nur das dünne Leinenkleid, unter dem sich ihr Körper viel zu deutlich abzeichnete, und mit einem Male fiel ihr siedend heiß ein, dass sich Salim in den letzten Wochen mehr als einmal lobend darüber geäußert hatte, wie voll und weiblich ihre Brüste geworden waren.
»Worauf wartet Ihr?«, fragte Dariusz grob. »So langsam, wie Ihr Euch ankleidet, Bruder, könnte man glauben, uns bliebe noch alle Zeit der Welt. Der Großmeister selbst wird heute Morgen die Prima leiten. Ihr wisst, wie streng die Strafen sind, wenn man zu spät erscheint? Schert Euch das gar nicht?«
Wieder tastete sein Blick aufmerksam über ihre Gestalt, und diesmal war Robin sicher, dass er länger als notwendig an ihrer Brust hängen blieb. Er musste es einfach sehen. Es war dunkel im Zelt, aber längst nicht dunkel genug.
Endlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung und drehte sich möglichst unauffällig ein Stück zur Seite, damit sie die Bewegung nicht endgültig verriet, mit der sie die Arme hob und in das schwere Kettenhemd schlüpfte. Als ihr Blick wieder in Dariusz’ Gesicht fiel, war sie sicher, es in seinen Augen spöttisch aufblitzen zu sehen. Er sagte nichts, aber Robins Verdacht, dass er es wusste, begann sich zur Gewissheit zu verdichten.
Und Rother? Während sie aufstand und sich hastig nach dem Gambeson bückte, versuchte sie unauffällig, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Es gelang ihr nicht wirklich. Er stand halb hinter Dariusz und wich ihrem Blick aus, aber sie glaubte zu erkennen, dass er noch immer sehr bleich war.
Dann tat er etwas Sonderbares. Möglichst unauffällig schob er sich hinter Dariusz entlang, blieb wie durch Zufall dicht neben ihm stehen, und Robins Herz machte schon wieder einen erschrockenen Schlag und schien zu einem harten Kloß in ihrer Kehle zu erstarren, als sie das schwarze Tuch sah, das unmittelbar neben Rothers Fuß lag. Salims Turban! Vielleicht hatte Rother bisher geschwiegen, weil er nicht sicher war, wem Dariusz glauben würde, wenn sie einfach abstritt, was er gerade mit eigenen Augen gesehen hatte. Nun aber lag der Beweis direkt vor ihm.
Doch statt sich danach zu bücken und ihr Schicksal damit endgültig zu besiegeln, stieß Rother das Tuch mit einer raschen und doch unauffälligen Bewegung seines linken Fußes zwischen ihre Lagerstatt und die Zeltwand. Robin war so überrascht, dass sie sich nur noch mit Mühe beherrschen konnte und nicht einmal ganz sicher war, dass es ihr wirklich gelang.
»Soll Bruder Rother Euch beim Ankleiden helfen?«, fragte Dariusz spöttisch.
Robin verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort und beeilte sich, auch noch den Rest ihrer Kleidung anzulegen. Nachdem Dariusz ihren entsprechenden, fragenden Blick mit einem angedeuteten Kopfschütteln beantwortet hatte, verzichtete sie darauf, auch Schild, Helm und Schwertgurt mitzunehmen, und so vergingen nur mehr wenige Augenblicke, bis sie hinter ihm und Rother aus dem Zelt trat. Rings um sie herum flackerten offene Feuer und Fackeln, und sie sah, dass die meisten ihrer Brüder tatsächlich schon wach und angekleidet waren und sich einige von ihnen bereits, wenn auch ohne Hast, in Richtung des kleinen Platzes in der Mitte des Lagers bewegten, auf dem die Morgenmesse stattfinden sollte.
Nachdem Dariusz gerade so sehr zur Eile gedrängt hatte, wurden nun auch seine Schritte langsamer, kaum dass sie das Zelt verlassen hatten. Nach ein paar Schritten schlenderte er geradezu dahin, und Robin hatte das Gefühl, sie müssten nur noch eine Winzigkeit langsamer gehen, um vollends stehen zu bleiben. Sie wagte es nicht, eine entsprechende Bemerkung zu machen oder gar eine Frage zu stellen, aber sie versuchte, Rother einen fragenden Blick zuzuwerfen. Der junge Ritter antwortete mit einem nur mit den Augen angedeuteten Kopfschütteln, das Robin aber eher verwirrte, als ihr irgendwie weiterzuhelfen. Sie verstand einfach nicht, warum er Dariusz bisher so ganz offensichtlich noch nicht Bericht erstattet hatte; und sie verstand noch sehr viel weniger, warum er das verräterische Tuch weggestoßen hatte. Damit hatte er ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern sich auch selbst in höchste Gefahr gebracht. Robin zweifelte nicht daran, dass sie sich noch vor Beginn der Schlacht nebeneinander auf demselben Scheiterhaufen wiedergefunden hätten, hätte Bruder Dariusz es gesehen und das Tuch gefunden und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Ob Rother auch nur ahnte, welches Risiko er eingegangen war?
»Du wirst dich sicher fragen, warum ich dich angetrieben habe, wo wir doch so sichtlich viel Zeit bis zur Prima haben«, sagte Dariusz plötzlich und von einem Moment auf den anderen zum vertraulichen Du wechselnd.
Robin schwieg. Wenn Dariusz irgendein grausames Spiel mit ihr spielen wollte, so konnte sie ihn nicht daran hindern, aber sie würde gewiss nicht auch noch freiwillig dabei mitmachen.
»Ich will es dir sagen, Bruder Robin«, fuhr Dariusz fort und blieb nun endgültig stehen. »Ich habe es getan, um dir all das hier zu zeigen.«
Robin schwieg beharrlich weiter.
»All diese Männer hier«, fuhr Dariusz mit einer deutenden Geste in die Runde fort. »All unsere Brüder, all die weltlichen Ritter und Gefolgsleute, all die freiwilligen Kämpfer, ob Ritter oder der niedrigste Schildknappe, haben sich in der vergangenen Nacht auf die Schlacht vorbereitet. Viele haben gebetet. Manche haben getrunken, und manche haben gesündigt und sich der fleischlichen Lust hingegeben. Ein jeder auf seine Art. Hast du das ebenfalls getan, Bruder Robin?«