Robin erschrak bis ins Mark. »Was?«, fragte sie mit belegter Stimme. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Wusste Dariusz doch Bescheid und war des grausamen Spiels überdrüssig geworden?
»Dich auf die Schlacht vorbereitet und Gott um Beistand und Schutz gebeten«, antwortete Dariusz.
»Selbstverständlich«, sagte Robin rasch. Dariusz’ Augen wurden schmal, und Robin ließ einen kurzen Moment verstreichen und fügte mit einem leicht verlegenen Lächeln hinzu: »Nun, um ehrlich zu sein: Ich habe gebetet, aber vielleicht nicht so viel, wie ich gesollt hätte. Ich war sehr müde und habe geschlafen, um Kraft für den heutigen Tag zu sammeln.«
»So?«, fragte Dariusz. »So ausgeruht siehst du aber gar nicht aus.«
»Ich habe nicht besonders gut geschlafen«, räumte Robin ein.
»Am Abend vor einer Schlacht ist das nur verständlich«, sagte Dariusz, »Hast du Angst?«
»Nein«, antwortete Robin. In diesem Moment war das nicht einmal gelogen. Sie war einfach nur verwirrt.
»Dann bist du ein Dummkopf«, sagte Dariusz. »Keiner dieser Männer hat in der vergangenen Nacht gut geschlafen, aus Angst vor dem, was heute geschieht. Auch ich habe Angst. Es ist nicht schwer, Mut zu zeigen, wenn man keine Angst kennt.«
Robin sah ihn fragend an, schwieg aber immer noch. Worauf wollte Dariusz hinaus?
»Es wird deine erste große Feldschlacht, habe ich Recht?«, fuhr Dariusz fort.
Robin nickte.
»Was würdest du darum geben, nicht daran teilhaben zu müssen?«, fragte Dariusz.
»Bruder?«, murmelte Robin.
»Die Hälfte der Männer hier hat Gott den Herrn in dieser Nacht insgeheim angefleht, diesen Kelch an ihnen vorübergehen zu lassen«, sagte Dariusz geradeheraus. »Ich vermute, selbst einige unserer eigenen Brüder, und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Angst ist nichts Verwerfliches, Bruder Robin. Gott hat uns die Angst gegeben, um unsere Leben zu beschützen.«
Robins Verwirrung wuchs mit jedem Wort, das sie hörte. War das wirklich derselbe Dariusz, den sie kannte? Nein. Es musste eine Falle sein! Aber sie verstand einfach nicht, worauf er hinauswollte.
Dariusz ging weiter, und Robin folgte ihm. Als Rother sich ihnen anschließen wollte, scheuchte Dariusz ihn mit einer fast unwilligen Geste fort und wartete, bis er außer Hörweite war. Robin fiel allerdings auch auf, dass er ihnen trotzdem folgte, wenn auch nun in größerem Abstand.
»Du hast noch nie zuvor eine wirkliche Schlacht erlebt, nicht wahr?«, fuhr Dariusz fort, aber er erwartete nicht wirklich eine Antwort, denn er redete praktisch sofort weiter. »Den Lärm. Den Gestank nach Blut und Schweiß. Die angreifenden Feinde. Die Schreie und der Anblick der sterbenden Freunde. Die Angst. All das ist grauenhaft, Bruder Robin. Manchmal frage auch ich mich, warum Gott der Herr ein solch gewaltiges Opfer von uns verlangt.«
»Worauf wollt Ihr hinaus, Bruder Dariusz?«, fragte Robin leise. »Warum erzählt Ihr mir das alles?«
Dariusz blieb abermals stehen. »Du bist noch sehr jung, Robin. Ich weiß, wie gut du mit Schwert und Speer umzugehen verstehst und was für ein ausgezeichneter Reiter du bist. Aber dein Leben hat gerade erst begonnen. Es wäre eine Sünde, es wegzuwerfen.«
»Ich verstehe nicht genau, worauf Ihr ...«
»Du musst heute nicht mit uns reiten, Bruder Robin«, sagte Dariusz. »Ich kann dich mit einer dringenden Botschaft zurück nach Safet schicken. Einer Botschaft, die zu wichtig ist, um sie irgendeinem beliebigen Soldaten anzuvertrauen.«
»Dann schickt Rother«, antwortete Robin in schärferem Ton, als sie selbst beabsichtigt hatte. »Er hat sich Eures Vertrauens doch schon in der Vergangenheit als würdig erwiesen, wenn ich mich nicht täusche.«
Sie war zu weit gegangen. In Dariusz’ Augen blitzte es wütend auf, und einen Moment lang war sie vollkommen sicher, dass er sie schlagen würde. Aber dann gewann er seine Fassung zurück und nickte nur.
»Er könnte dich begleiten, wenn du so sehr um sein Wohl besorgt bist«, sagte er gepresst. »Ein Schwert mehr oder weniger wird den Ausgang der Schlacht kaum verändern. Vor allem jetzt nicht«, fügte er finster hinzu, »wo man uns praktisch zu Zuschauern der Schlacht degradiert hat.«
Robins Verwirrung stieg ins Unermessliche. Dariusz hatte ihr gerade mehr oder weniger angeboten, ihr die Flucht zu ermöglichen. Aber warum um alles in der Welt sollte er das tun? Ausgerechnet Dariusz?
»Was soll das?«, fragte sie. »Noch vor einer Woche ...«
»Vor einer Woche«, fiel ihr Dariusz ins Wort, »wusste ich noch nicht, was für mächtige Freunde du hast.«
»Wie?«, machte Robin verständnislos.
»Jemand hält seine schützende Hand über dich«, antwortete Dariusz. »Ich kann dir nicht sagen, wer es ist, doch es gibt jemanden, der nicht will, dass du zu Schaden kommst. Du wirst das Lager gleich nach der Prima verlassen und nach Safet reiten. Ob du Bruder Rother mit dir nimmst oder nicht, ist deine Entscheidung, doch du wirst gehen, noch bevor die Sonne aufgeht. Und nun komm, bevor wir noch tatsächlich zu spät zum Gebet kommen.«
16. KAPITEL
Die Zahl der Tempelritter war gestiegen. Als sie Safet verlassen hatten, waren sie siebzig gewesen. Jetzt waren es an die zweihundert Männer, die im Kreis um Odo von Saint-Amand niedergekniet waren und mit ehrfürchtig gesenkten Häuptern seinen Worten lauschten. Auch Robin kniete mit gebeugtem Nacken und gefalteten Händen da, aber sie lauschte nicht, und als die Männer rings um sie herum zu singen begannen, bewegten sich zwar ihre Lippen, doch sie hätte nicht einmal sagen können, welches Lied es war.
Robin war noch immer vollkommen verwirrt. Dariusz’ Worte hatten einleuchtend geklungen, und sie hatte seine Wut gespürt, sich einem Befehl beugen zu müssen, der ihm so zuwider war - und doch spürte sie zugleich, dass etwas an seiner Geschichte nicht stimmte. Dariusz war kein Mann, der sich so ohne weiteres erpressen ließ oder zu irgendetwas zwingen. Aber warum sollte ausgerechnet er dafür sorgen wollen, dass ihr nichts geschah?
Sosehr sie sich auch den Kopf über diese Frage zerbrach, sie fand keine Antwort, und sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht einmal merkte, als die Prima zu Ende ging und der Großmeister die Krieger Gottes mit seinem Segen entließ. Sie war die Letzte, die sich erhob, und selbst das nur, weil sie die missbilligenden Blicke der anderen rings um sich herum spürte. Rasch sprang sie auf, rief sich in Gedanken zur Ordnung und spürte selbst, wie wenig dieser Versuch fruchtete; ganz im Gegenteil schien ihre Nervosität eher noch anzuwachsen, und als sie sich umdrehte und die Hände dabei weiter gefaltet vor der Brust hielt, tat sie es nicht, um stumm weiterzubeten, wie manche der Männer hier, sondern einzig, damit man ihr Zittern nicht sah.
Verstohlen suchte sie nach Rother. Er war ganz in ihrer Nähe niedergekniet, um zu beten, und er folgte ihr auch jetzt in nur wenigen Schritten Abstand, doch er wich ihren Blicken so beharrlich aus, dass Robin den Gedanken verwarf, ihn anzusprechen.
Bruder Dariusz wartete am Rande des freigebliebenen Platzes im Herzen des Lagers, auf dem sie sich zum Gebet versammelt hatten. Robin zerbrach sich einen Moment lang fast panisch den Kopf darüber, wie sie ausweichen könnte, ohne dass es auffiel oder er Gelegenheit fand, sie zurückzurufen, aber natürlich ließ Dariusz es gar nicht erst so weit kommen. Sie war noch gute zehn oder zwölf Schritte von ihm entfernt, als er auch schon die rechte Hand hob und sie zu sich befahl; in der anderen hielt er etwas Kleines, Weißes, das Robin im noch immer schwachen Licht des Morgens nicht richtig erkennen konnte; wahrscheinlich die Nachricht, von der er gesprochen hatte. Robin bezweifelte, dass auf dem eng zusammengerollten Pergament irgendetwas von Wichtigkeit stand, falls überhaupt etwas. Gerade wollte er sie ansprechen, als hinter ihr eine scharfe, leicht verärgert klingende Stimme ihren Namen rief.