»Vielleicht sollten wir nicht zu vorschnell mit unserem Urteil sein, Bruder«, wandte Odo ein. Seine Stimme klang so müde, wie sein Gesicht aussah, doch als Robin ihren Blick endlich von Salims schattenhafter Gestalt auf der anderen Seite des Platzes losriss und sich vollends zu ihm und dem Marschall umwandte, erkannte sie nicht die geringste Spur von Schwäche in seinen Augen.
»Ihr wollt doch dieser unverschämten Forderung nicht etwa nachgeben?«, fragte Ridefort.
»Natürlich nicht«, antwortete Odo. Er maß Robin mit einem raschen, seltsamen Blick. »Auf der anderen Seite sollten wir nicht vergessen, dass die Assassinen seit vielen Jahren unsere treuen Verbündeten sind. Überaus wichtige Verbündete. Vielleicht wäre es unklug, sie unnötig zu verärgern.« Er seufzte. »Sinan betrachtet Bruder Robin noch immer als sein Eigentum. Schließlich hat er ihn von einem Sklavenhändler gekauft.«
»Kein Christenmensch kann das Eigentum eines Heiden sein«, antwortete Dariusz zornig. »Und erst recht keiner, der das Kreuz unseres Ordens trägt. Ihr könnt nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, einen der Unseren auszuliefern wie ein Stück Vieh, das dieser Heide auf dem Markt gekauft hat!«
Odos Gesicht verdüsterte sich, und auch Ridefort wirkte verärgert von dem übertrieben scharfen Ton, den Dariusz angeschlagen hatte; nur noch einen Deut davon entfernt, tatsächlich zu schreien. Trotzdem wandte er sich nach einem Moment mit einem zustimmenden Nicken an Odo.
»Ich hätte es vielleicht in andere Worte gefasst als Bruder Dariusz«, sagte er, »aber er hat Recht. Was würden die anderen dazu sagen, wenn sie davon erführen? Wir können keinen der Unseren in die Sklaverei ausliefern. Fragt diesen Heiden, welchen Preis sein Herr für Bruder Robin bezahlt hat, und gebt ihm das Doppelte, bevor Ihr ihn zurückschickt.« Odo wirkte unentschlossen. Auch er drehte sich um und musterte die dunkle Gestalt auf der anderen Seite des Platzes nachdenklich, bevor er einen leisen, aber fast resignierend klingenden Seufzer ausstieß. »Ja, so soll es geschehen«, sagte er. »Aber erst, wenn alles vorbei ist. Ich traue diesen Assassinen nicht. Sie sind nicht umsonst für ihre Verschlagenheit und Heimtücke bekannt.« Er seufzte noch einmal und fuhr dann mit finsterer Stimme und direkt an Dariusz gewandt fort: »Nehmt Euch einige Männer und setzt diesen Assassinen gefangen. Krümmt ihm kein Haar, aber tragt Sorge dafür, dass er das Lager nicht verlässt, bevor wir zurück sind. Danach gebt ihm, was seinem Herrn zusteht. Ich werde ihm einen persönlichen Brief an den Alten vom Berge mitgeben, in dem ich ihm meinen Standpunkt erkläre, und ich bin sicher, er wird ihn verstehen.«
Dariusz starrte ihn und Ridefort einen Moment lang abwechselnd und mit steinernem Gesicht an, doch dann wandte er sich mit einem gehorsamen Nicken um und eilte davon, um Odos Befehl auszuführen.
Robin sah ihm mit klopfendem Herzen nach. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie beobachtete, wie er auf Salim zuging und dabei Rother und drei weiteren Rittern mit einer Geste bedeutete, ihm zu folgen, und plötzlich spürte sie, wie kalt der Morgen noch immer war. Sie hatte Angst. Entsetzliche Angst.
Obwohl die Schlacht meilenweit entfernt war, ließ ihr Echo die Erde erzittern und dröhnte wie Donnerhall in Robins Ohren. Der Tag war so heiß geworden wie alle anderen zuvor, und obwohl Hunderte von Pferdehufen und Tausende von Füßen den Staub rings um sie herum in dichten Wolken hochwirbeln ließen, schien die Luft zugleich von einer seltenen Klarheit, sodass der Blick zumindest von Robins erhöhter Position aus ungehindert meilenweit reichte - oder es jedenfalls getan hätte, wäre er nicht kurz vor der Spitze des Heereszuges von den steil emporstrebenden, mit kränklich aussehendem, dürrem Gras und vereinzelten, sonderbar verbrannt wirkenden Bäumen bewachsenen Hängen des Tales aufgehalten worden. Trotz des Schlachtenlärms, der über die Hügel heranwehte, schien gleichzeitig eine fast unheimliche Stille zu herrschen, als wären alle anderen Laute einfach erloschen, um dem Dröhnen der aufeinander prallenden Heere, dem Klirren von Stahl, den Todesschreien von Mensch und Tier Platz zu machen.
Robin fuhr sich müde mit dem Handrücken über das Gesicht und versuchte den Schweiß wegzublinzeln, der ihr immer wieder in die Augen lief und sie brennen ließ. Es war ein unheimlicher, fast bizarrer Anblick, der sich ihr und den anderen Tempelrittern bot, die auf Balduins Befehl hin in diesem schmalen Tal nordwestlich des eigentlichen Schlachtfelds Aufstellung genommen hatten. Ihr Auftrag - so hatte ihr Dariusz erklärt - lautete, den Truppen Faruk Schahs den Rückweg abzuschneiden, sobald es dem Hauptheer der Barone und Grafen sowie den Johannitern gelungen war, ihren Widerstand zu brechen und sie in die Flucht zu schlagen. Wäre es nach Dariusz’ vollmundigen Worten gegangen, so hätte dies schon längst passiert sein müssen. Die Schlacht tobte jetzt seit einer guten Stunde, und obwohl immer wieder Reiter mit Nachrichten von der Schlacht über die Hügel zu ihnen gekommen waren, die nichts anderes besagten, als dass es genau so kam wie von Balduin und den Johannitern vorausgesehen. Die Sarazenen waren an allen Fronten geschlagen worden, aber trotzdem waren ihre Reihen offensichtlich doch noch nicht ganz zusammengebrochen. Trotz der schrecklichen Verluste, von denen Dariusz mit leuchtenden Augen berichtete, hatten sie sich zumindest bisher noch immer nicht zur Flucht gewandt, sondern hielten dem christlichen Heer wider aller Erwartung stand.
Während der letzten Zeit war Dariusz zusehends unruhiger geworden. Seine Finger spielten immer nervöser abwechselnd mit den Zügeln seines Pferdes und dem Schwertgriff in seinem Gürtel, und er bewegte sich unruhig im Sattel. Sein Blick wanderte unstet zwischen den Hängen rechts und links und dem schmalen Ausgang des Tales eine halbe Meile vor ihnen hin und her, und auf seinem Gesicht hatte sich ein Ausdruck zwischen Nervosität und Ungeduld ausgebreitet, der mit jedem Moment stärker wurde. Hätte irgendein anderer Mann als Dariusz neben ihr auf dem gewaltigen Schlachtross gesessen, Robin wäre sicher gewesen, dass er einfach unter der Hitze litt. Aber es war Dariusz, und Robin wusste, dass er eher sterben würde, bevor er sich anmerken ließ, dass ihm die Hitze ebenso sehr zu schaffen machte wie allen anderen hier. Was es ihm unmöglich machte, still im Sattel sitzen zu bleiben, das war das Wissen um die Schlacht, die auf der anderen Seite der Hügel tobte und an der er nicht teilhaben durfte. Sein Schwert gierte nach dem Blut der Feinde, und der bloße Gedanke, dass kaum mehr als eine Meile entfernt in diesem Moment eine Schlacht geschlagen wurde, die möglicherweise das Schicksal der gesamten Christenheit entscheiden konnte und er nicht daran teilhaben durfte, musste für ihn vollkommen unerträglich sein.
Robin hatte sich gehütet, noch einmal auf das Thema einzugehen, doch je länger sie Dariusz betrachtete, desto sicherer war sie, dass er sie am Morgen mit der Behauptung angelogen hatte, die Angst vor einem Waffengang ebenfalls zu kennen. Wenn Dariusz überhaupt wusste, was das Wort Angst hieß, so hatte es für ihn eine vollkommen andere Bedeutung als für sie und jeden einzelnen Mann hier.
Das Tal wurde vor ihnen schmaler, zugleich wuchsen seine Wände weiter an, sodass es auf den letzten fünfzig Schritten beinahe zu einer lotrechten Schlucht wurde, ganz ähnlich der, hinter deren Biegung sie damals auf die vermeintlichen Plünderer gestoßen waren. Nach weiteren zwanzig oder dreißig Schritten machte der Canyon einen scharfen Knick, sodass sie nicht sehen konnten, was dahinter lag, und vielleicht war das der simple Grund, aus dem sie der Anblick mit einem so unguten Gefühl erfüllte. Die Bilder waren sich zu ähnlich und die Erinnerung an die Beinaheniederlage, die sie an einem fast identischen Ort erlitten hatten, noch zu frisch in ihrem Gedächtnis.
Robin versuchte sich selbst damit zu beruhigen, dass es diesmal anders kommen würde. Sie waren keine Hand voll Reiter, die unter dem Kommando eines heißblütigen Fanatikers einfach lospreschen würden, sondern eine ganze Armee, wenn auch nur einen Bruchteil so stark wie das Hauptheer des Königs, das auf der anderen Seite der Hügel mit den Sarazenen focht, so doch das gewaltigste Heer, das Robin jemals gesehen hatte. Zu den gut zweihundert berittenen Templern hatte sich ein vielfach größeres Kontingent weltlicher Ritter unter dem Befehl Graf Raimunds gesellt, und dazu kamen Hunderte und Aberhunderte von Fußtruppen, deren Speere wie ein Wald aus scharf geschliffenem eisernem Schilf über die Wolke aus flirrendem Staub emporragten, durch den sich der Tross langsam weiter auf das Ende des Tales zubewegte.