Nur ein Dutzend Schritte vor ihnen erweiterte sich der schmale Spalt im Felsen zu einer weiten, zum Flussufer hin sanft abfallenden Ebene, auf der es keine Felsen, sondern nur dürres, von der Sonne verbranntes Gras und ein wenig kärgliches Buschwerk gab.
Sie war schwarz von Reitern.
Robin hätte vor Entsetzen beinahe laut aufgestöhnt. Sie hatte eine Hand voll sich in kopfloser Flucht befindender, geschlagener Männer erwartet, doch was sich da vor ihnen befand, das war ein gewaltiges, nach Tausenden zählendes Reiterheer, und es befand sich nicht in kopfloser Aufregung und auf der Flucht, sondern ganz im Gegenteil in militärisch präziser Ausrichtung und bewegte sich direkt auf sie zu! Ihre Anzahl musste das Zehnfache ihrer eigenen betragen, wenn nicht mehr.
Hinter ihnen wurde eine schrille Stimme laut. Ohne langsamer zu werden, drehte Robin den Kopf und gewahrte einen einzelnen Reiter, der weit im Sattel nach vorne gebeugt herangeprescht kam und wie von Sinnen mit dem linken Arm gestikulierte. Es war Graf Raimund.
»Odo von Saint-Amand!«, schrie er. »Ich befehle Euch, haltet ein! Zieht Euch zurück!«
Robin glaubte nicht, dass der Großmeister den Befehl des Grafen absichtlich missachtete. Viel mehr war sie nahezu sicher, dass er Raimunds Worte so wenig gehört, wie er ihn gesehen hatte, zumal Dariusz genau in diesem Moment eine weitere, befehlende Geste mit seiner Lanze machte, woraufhin die Templer abermals ihre Formationen änderten und nun wieder in zwei hintereinander gestaffelten Reihen ritten und gleichzeitig schneller wurden. Raimund gestikulierte immer verzweifelter mit den Armen, versuchte mit aller Gewalt, schneller zu werden und wäre um ein Haar von der sich auseinander faltenden Schlachtreihe der Templer niedergeritten worden. Das Letzte, was Robin von ihm sah, war sein nervös zur Seite tänzelndes Pferd, das ihn um ein Haar abgeworfen hätte.
»Gott will es!«, brüllte Dariusz und senkte seine Lanze.
Gleichzeitig wechselten die Pferde von schnellem Trab in einen rasenden Galopp, und das Reiterheer der Sarazenen schien ihnen regelrecht entgegenzuspringen.
Vielleicht einen halben Atemzug, bevor die beiden ungleichen Heere aufeinander prallten, sah Robin noch etwas anderes: Von rechts, aus der Richtung, aus der seit einer Stunde der Kampflärm zu ihnen gedrungen war, näherten sich weitere Reiter. Es waren viele, wenn auch nur ein Bruchteil der gewaltigen Armee, der sie sich entgegenwarfen, und sie befanden sich in kopfloser panischer Flucht, verfolgt von einer ungleich größeren Anzahl bunt gekleideter, gepanzerter Reiter, die unter den wehenden Fahnen und Bannern der Christenheit heranstürmte. Balduins Heer, das Faruk Schahs geschlagene Truppen vor sich herjagte. Wer aber waren die Krieger, auf die sie gestoßen waren?
Robin kam nicht dazu, sich diese Frage noch einmal zu stellen. Sie hatten die Sarazenen erreicht. Instinktiv senkte sie ihre Lanze und hielt sie mit aller Kraft fest, während sie gleichzeitig den linken Arm mit dem Schild höher hob, die Füße in die Steigbügel stemmte und sich gegen den erwarteten Anprall wappnete.
Irgendetwas traf ihren Schild und prallte mit einem hässlichen Geräusch, das sich als vibrierender Schmerz durch ihren Arm bis in die Schultern hinauf fortpflanzte, von dem harten Holz ab. Gleichzeitig spürte sie, wie ihre Lanze auf Widerstand stieß, mit solcher Kraft, dass sich das harte Holz durchbog und den Bruchteil eines Atemzuges später einfach zersplitterte.
Um ein Haar hätte sie schon dieser allererste Zusammenprall aus dem Sattel geworfen. Es war einzig ihr Pferd, das sie weiterriss, und kaum mehr als schieres Glück, dass die Schlacht für sie nicht schon in den ersten Sekunden zu Ende war.
Fast hätte sie sich gewünscht, sie wäre es.
Das Templerheer war auf breiter Front in die Flanke der Sarazenen geprallt, und es war, als wäre der Sturm in ein Kornfeld gefahren. Die Reihen der Sarazenen wankten nicht - sie zerbarsten einfach wie der aus Pergament gefertigte Spielzeugschild eines Kindes unter dem Hieb eines Panzerhandschuhs. Im ersten Moment nahm nicht einmal ihr Tempo merklich ab. Die kaum gepanzerten Sarazenen auf ihren kleineren und leichteren Pferden hatten keine Chance gegen die Tempelritter auf ihren gewaltigen Schlachtrössern. Sie wurden einfach niedergeritten. Rings um sie herum bäumten sich Pferde auf, stürzten Männer aus den Sätteln oder brachen mit ihren Tieren zusammen, und mehr als ein Sarazene wurde einfach unter den Hufen der gewaltigen Schlachtrösser zu Tode getrampelt.
Und während die Speerspitze der christlichen Reiter tiefer und tiefer in das muselmanische Heer eindrang und dabei immer noch nicht spürbar an Tempo verlor, ging eine fast unheimliche Veränderung mit Robin vonstatten.
Ihr linker Arm schmerzte noch immer, und ihr Herz schlug schneller und härter als zuvor, aber plötzlich hatte sie keine Angst mehr. Überall rings um sie herum tobten erbitterte Kämpfe, schlug Stahl auf Stahl oder Fleisch, starben Männer und Tiere, und sie war sich vollkommen der Gefahr bewusst, in der sie schwebte, und dennoch fühlte sie sich zugleich auf eine sonderbare Weise fast unverwundbar. Es war, als wäre sie nicht mehr allein nur noch sie selbst, sondern zugleich Teil von etwas anderem und Größerem. Sie waren die Speerspitze des Christentums, die Faust Gottes, die die Feinde der Christenheit zerschmettern würde, ganz gleich, wie fanatisch sie sie auch zu bekämpfen versuchten.
Dann traf ein furchtbarer Schlag ihren Schild und ließ sie vor Schmerz aufschreien. Robins Pferd bäumte sich auf, und ein zweiter, noch härterer Schlag traf ihren Schild und spaltete ihn, ohne dass er tatsächlich in Stücke brach. Aus dem Schmerz, der ihren Arm ergriffen hatte, wurde ein Gefühl dumpfer Betäubung, das alle Kraft aus der linken Seite ihres Körpers zu saugen schien, und prompt und selbstverständlich im unpassendsten aller nur denkbaren Augenblicke meldete sich eine gute alte Bekannte zurück: die Übelkeit. Robin wankte im Sattel, sah einen verschwommenen, riesigen Umriss neben sich aufragen und wartete auf den dritten Hieb, der alles beenden würde. Tödlicher Stahl zuckte in einer rasend schnellen Bewegung auf sie herab. Irgendwie gelang es ihr trotz allem noch einmal, den linken Arm in die Höhe zu reißen, aber sie wusste auch, dass der zerbrochene Schild sie nicht mehr schützen konnte.
Und dann war plötzlich ein zweiter, riesiger Reiter neben ihr. Stahl prallte auf Stahl. Funken stoben, als Dariusz’ Schwert gegen die Klinge des Sarazenen prallte und sie beiseite schlug. Praktisch im gleichen Augenblick stieß er auch mit dem linken Arm zu. Sein Schildschlag schleuderte den Angreifer aus dem Sattel und war sogar noch wuchtig genug, selbst sein Pferd straucheln zu lassen.
»Alles in Ordnung, Bruder Robin?«
Robin brachte nicht mehr als ein angedeutetes Kopfschütteln zustande, aber das schien Dariusz vollkommen zu genügen, denn er zwang sein Pferd mit einem brutalen Ruck herum und stürzte sich mit hoch erhobenem Schwert erneut in den Kampf, und auch Robin schüttelte ihre Benommenheit mühsam ab. Selbst die Übelkeit legte sich, auch wenn sie nicht ganz verschwand, und ein bitterer Geschmack nach Galle und Blut blieb auf ihrer Zunge zurück.
Mittlerweile hatte der Angriff der Templer doch an Schwung verloren, und überall waren erbitterte Einzelgefechte ausgebrochen, bei denen sich ihre Ordensbrüder nur zu oft gegen zwei, drei oder gar vier Feinde gleichzeitig verteidigen mussten, und es wären wahrscheinlich noch mehr gewesen, hätte der Platz dazu nur gereicht. Dennoch gewannen die Tempelritter nahezu jedes Duell. Ihre Gegner kämpften ebenso verbissen wie tapfer, aber ihre Krummsäbel und Speere schienen fast wirkungslos von den schweren Rüstungen der christlichen Ritter abzuprallen, während die breiten Klingen der Templer grausam unter ihren Feinden wüteten, deren einfache Mäntel und Burnusse ihnen praktisch keinen Schutz vor den mächtigen Schwertern der Templer boten; ebenso wenig wie ihre runden Schilde, die meist schon unter dem ersten ernst gemeinten Hieb zerbrachen. Robin gewahrte nur ein einziges, reiterloses Pferd im Weiß und Rot der Tempelritter.