Erneut prallte irgendetwas so hart gegen sie, dass sie sich nur noch mit verzweifelter Kraft im Sattel halten konnte. Ihr Pferd bäumte sich auf und hätte sie zusätzlich beinahe abgeworfen. Die tobende Gewalt, die überall rings um sie herum explodierte, die Schreie und der Gestank nach Blut und Tod machten das Tier fast wahnsinnig. Überall wurde gekämpft und starben Menschen, aber sie wusste nicht mehr, wer gegen wen kämpfte oder warum, wer Freund oder Feind war. Plötzlich war alles sinnlos geworden. Sie wollte nicht mehr kämpfen. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Sie wollte kein Ritter mehr sein. Sie wollte nur noch hier weg. Panik griff nach ihren Gedanken und fegte auch noch den allerletzten Rest von Vernunft davon. Sie sprengte blindlings los und prallte so wuchtig gegen einen Sarazenen, dass dessen Tier strauchelte und seinen Reiter abwarf. Er stand nicht wieder auf, sondern wurde zu Tode getrampelt, und auch Robin hätte um ein Haar den Halt verloren und wäre gestürzt, was auch für sie einem sicheren Todesurteil gleichgekommen wäre. Wer in diesem Zusammenprall zweier gewaltiger Reiterheere vom Pferd fiel, bekam nie wieder Gelegenheit aufzustehen.
Aber auch so rechnete sie sich kaum noch Chancen aus, das Schlachtfeld lebend zu verlassen. Warmes Blut lief über ihren Rücken und ihre Schulter. Sie war verletzt, sie wusste nicht, wie schlimm, und seltsamerweise hatte sie keine Schmerzen, aber sie spürte, wie ihre Kräfte immer mehr und mehr schwanden. Wenn sie das nächste Mal angegriffen wurde, würde sie vielleicht nicht einmal mehr die Kraft haben, ihr Schwert zu heben. Sie wusste nicht einmal, ob sie es wollte. Vielleicht war der Tod die schnellste Möglichkeit, dieser Hölle zu entkommen. Das war nicht die heroische Schlacht, die sie sich vorgestellt hatte. Es war einfach nur Wahnsinn. Ihre Angst war so schlimm geworden, dass sie körperlich wehtat. Es musste doch irgendwann einmal vorbei sein!
Doch es war nicht vorbei. Robin wurde ganz im Gegenteil wieder angegriffen, und diesmal von zwei Reitern zugleich. Fast zu ihrem eigenen Erstaunen gelang es ihr, das Schwert hochzureißen und nicht nur den Speer beiseite zu schlagen, mit dem einer der Männer nach ihr stocherte, sondern ihn auch aus der gleichen Bewegung heraus schwer genug zu treffen, um ihm die Lust auf einen weiteren Angriff zu nehmen, aber praktisch im gleichen Moment landete der andere einen fürchterlichen Schwerthieb gegen ihren Hinterkopf. Die Klinge vermochte den schweren Eisenhelm nicht zu durchdringen, aber der Schlag war so gewaltig, dass Robin nach vorne geworfen wurde und ihr das Blut aus Nase und Mund schoss. Sie hatte noch immer keine Schmerzen, doch ihr Schädel dröhnte, als wolle er zerplatzen, und auch der letzte Rest von Kraft wich aus ihren Gliedern. Hilflos brach sie über dem gepanzerten Hals ihres Pferdes zusammen. Das Schwert entglitt ihren Fingern und fiel zu Boden, und alles begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Dennoch sah sie, wie der Sarazene zu einem zweiten und diesmal mit Sicherheit tödlichen Hieb ausholte. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren, aber sie war trotz allem zu stolz, um die Augen zu schließen und auf den Tod zu warten.
Gerade als sie sicher war, mit dem nächsten Atemzug die Antwort auf die Frage zu bekommen, ob es Gott nun gab oder nicht, tauchte ein weiterer Sarazene hinter dem Angreifer auf und stieß ihm sein Schwert in den Rücken. Der Mann kippte wie vom Blitz getroffen aus dem Sattel, und Robin starrte aus fassungslos aufgerissenen Augen zu der vollkommen in Schwarz gekleideten Gestalt hoch, die sie im allerletzten Moment gerettet hatte. Sie verstand nicht, was sie sah. Es war unmöglich, und es machte keinen Sinn.
Der Reiter verharrte einen Moment vollkommen reglos und starrte auf sie herab, dann zwang er sein Pferd mit einem raschen Schenkeldruck herum und ritt an ihre Seite. Noch immer vollkommen verständnislos sah Robin zu, wie er sich im Sattel vorbeugte und das Schwert aufhob, das sie fallen gelassen hatte.
»Das war jetzt das zweite Mal, kleines Mädchen«, sagte er, während er ihr die Waffe mit dem Griff voran reichte. »Vielleicht gestehst du dir allmählich ein, dass ein Schlachtfeld kein Spielplatz ist. Ich werde vielleicht nicht immer da sein, um dir das Leben zu retten.«
Robin griff ganz instinktiv nach der Waffe, aber sie registrierte die Bewegung kaum. Ihr Blick saugte sich am schmalen Ausschnitt des Gesichtes des Sarazenen fest, den sie erkennen konnte; ein kaum fingerbreiter Streifen über Nasenwurzel und Augen. Augen, die ...
Aber das war doch unmöglich! »Salim?«, murmelte sie. »Aber wie ...?«
»Verschwinde endlich!«, unterbrach sie Salim. »Ich versuche, dich zu decken, aber selbst den Zauberkräften eines Assassinen sind Grenzen gesetzt.«
Robin richtete sich taumelnd im Sattel auf und versuchte ganz instinktiv, sich mit dem Handrücken über das Gesicht zu fahren, um das Blut wegzuwischen, das noch immer aus ihrer Nase lief, doch ihr Kettenhandschuh scharrte nur nutzlos über den eisernen Helm. »Salim?«, murmelte sie abermals. »Aber wieso ...«
Sie richtete sich mit einem Ruck endgültig auf. »Komm mit mir!«
Salim lachte rau. »Was für eine großartige Idee. Damit wir uns aussuchen können, welche von beiden Seiten uns umbringt?« Er machte eine zornige Handbewegung. »Jetzt reite endlich! Wir treffen uns im Lager. Falls genug von euch übrig bleiben, um ein Lager aufzuschlagen, heißt das.«
Robin verstand das so wenig wie das meiste andere, was er ihr in den letzten Augenblicken gesagt hatte, doch Salim ließ ihr keine Zeit, eine weitere Frage zu stellen, sondern riss sein Pferd herum und war im nächsten Moment im Schlachtgetümmel verschwunden. Robin starrte ihm noch einen Herzschlag lang wie gelähmt nach, aber dann zwang sie ihr Pferd herum und tat, was er ihr geraten hatte.
Sie floh.
17. KAPITEL
Noch vor einer Stunde hätte sie den bloßen Gedanken empört von sich gewiesen, feige davonzurennen, aber sie war nicht die Einzige; aus dem widerwilligen Zurückweichen der Templer war längst eine planlose Flucht geworden, die allmählich auch vom Rest der christlichen Truppen Besitz ergriff. Robin konnte nicht sagen, wer zuerst gewichen war, Raimunds Reiterei oder die Templer, aber es spielte auch keine Rolle: Die Schlacht war entschieden, und nicht nur Odos Truppen wichen zurück. Nur eine Hand voll Unbelehrbarer hatte sich um Ridefort geschart, der noch immer unerschütterlich das Baussant in die Höhe reckte, und so gewaltig die Übermacht auch war, an dieser Stelle zumindest hielten sie stand. Fahne und Reiter ragten wie ein Fels aus blutbeflecktem Weiß und besudeltem Silber aus einem kochenden Meer schwarzer Mäntel und Turbane und blitzender Pickelhauben und Speere, und über ihnen flatterte trotzig das schwarzweiße Banner im Sturm, das die Schlacht entfesselt hatte.
Einen ganz kurzen Moment lang überlegte Robin sogar ernsthaft, sich ihnen anzuschließen, und möglicherweise hätte sie es sogar getan, wäre es nicht ausgerechnet Ridefort gewesen, der das Häufchen Unerschrockener anführte. Aber sie verwarf diesen Gedanken fast ebenso schnell wieder, wie er ihr gekommen war. Er war nur noch ein schwaches Echo von etwas gewesen, woran zu glauben man sie gelehrt hatte; Gewohnheit, keine Überzeugung mehr. Salim hatte Recht gehabt, dachte sie bitter. Trotz allem, was sie zu wissen geglaubt hatte, hatte sie die bevorstehende Schlacht vor allem als großes, aufregendes Abenteuer gesehen. Aber an diesem Grauen erregenden Gemetzel war nichts Abenteuerliches. Die Welt, in der sie noch vor einer Stunde gelebt hatte, hatte nichts mehr mit der gemein, durch die sie nun torkelte. Nichts war so, wie es sein sollte. Alles, woran sie je geglaubt hatte, was ihr je wichtig gewesen war, war zerbrochen, in Stücke gerissen und mit den Schreien der Sterbenden verweht. ... Sie wollte nur noch weg hier.