Was sie sah, war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Es war schlimmer. Wie durch ein Wunder flatterte das Baussant immer noch über dem Schlachtfeld, doch von dem Mann, der es hielt, und seinen Brüdern war nichts mehr zu sehen. Der Bereich vor dem Talausgang war schwarz von Reitern, die von allen Seiten zugleich auf die Tempelritter eindrangen. Robin wusste, dass die Männer keine Chance hatten. Sie kam sich wie eine Verräterin vor.
Doch ihr wurde auch klar, dass sie keineswegs außer Gefahr war. Auch wenn das letzte Gefecht der Tempelritter zwei- oder dreihundert Schritte hinter ihr stattfand, so wurde doch auch überall rings um sie herum gekämpft. Schon war ein weiterer Sarazene auf sie aufmerksam geworden und galoppierte, seinen Speer unter dem Arm angelegt wie ein christlicher Ritter seine Lanze, auf sie zu. Robin griff automatisch nach ihrem Schwert. Plötzlich waren Schmerzen und Furcht vergessen, und alles, was sie fühlte, war eine kalte, mörderische Entschlossenheit, auch diesen Kampf zu gewinnen.
Mit einem Mal erschien ihr dieser einzelne Krieger als alles, was noch zählte. All ihr Zorn, ihre Furcht und dieser neue, absolute Wille zu überleben konzentrierten sich mit einem Mal auf ihn, irgendeinen der zahllosen Krieger aus Saladins Heer, den sie so wenig kannte wie er sie, und der trotzdem wild entschlossen war, sie zu töten. Es war nur ein winziger Moment, und er war fast so schnell vorbei, wie er gekommen war, und doch spielten die Schlacht, der Krieg, das große, hehre Ziel der Christenheit, für das sie gelebt hatte, plötzlich gar keine Rolle mehr. Für diesen einen Moment, in dem der Sarazene heransprengte und sie ihr Schwert aus dem Gürtel zog, um seinen Angriff abzuwehren, war es eine persönliche Sache zwischen ihr und ihm. Mit einer Bewegung, die ihr selbst sonderbar schwerelos vorkam, zwang sie das Pferd herum, zerschmetterte mit einem einzigen Hieb die Lanze des Sarazenen und ließ die Bewegung in einem nach oben führenden Bogen enden, der die Schwertklinge diagonal über seine Brust führte, als er an ihr vorübergaloppierte. Der Mann kippte mit einem Schrei aus dem Sattel und warf die Arme in die Luft, bevor er auf dem Boden aufschlug, und so schnell es auch ging, sah Robin trotzdem den Ausdruck maßloser Verblüffung und allmählich aufkeimenden Entsetzens in seinen Augen, der von einem heftigen, jähen Schmerz hinweggefegt wurde.
Dann schlug der Reiter auf dem Boden auf und rollte davon, sein Pferd verschwand irgendwo hinter ihr, und es war vorbei. Mit einem Mal holte sie die Vergangenheit ein. Sie war wieder am Strand, kniete wieder über Guy und starrte ihre eigenen Hände an, mit denen sie seinen Kehlkopf zerschmettert hatte. Plötzlich begann sie am ganzen Leib zu zittern. Sie hatte einen Menschen getötet. Es war absurd - der Reiter war garantiert nicht der Erste gewesen, der in dieser Schlacht von ihrer Hand gefallen war, und sie würde auch nicht zögern, es wieder zu tun, wenn es um ihr Leben ging - und doch war es ein gewaltiger Unterschied. Indem sie den Kampf mit ihm zu einer persönlichen Sache gemacht hatte, war er von einem feindlichen Krieger, der in der Schlacht fiel, zu einem Menschen geworden, den sie ermordet hatte. Ihr wurde übel.
Sie ließ das Schwert fallen, dessen Klinge noch rot vom Blut des Erschlagenen war, krümmte sich im Sattel und schaffte es gerade noch, sich den Helm vom Kopf zu reißen, bevor sie sich qualvoll würgend übergab.
Alles drehte sich um sie. In das Getöse der Schlacht in ihren Ohren mischte sich ein immer lauter werdendes, an- und abschwellendes Rauschen und Brausen, und die Übelkeit wurde schlimmer, nicht besser, und nun gesellte sich auch noch ein dünner, aber weiß glühender Schmerz dazu, der sich wie ein heißer Dolch in ihren Unterleib bohrte. Zitternd brach Robin über dem Hals des Pferdes zusammen, klammerte sich mit letzter Kraft an den rauen Stoff seiner Schabracke fest und übergab sich noch einmal, so lange, bis nur bittere Galle und Blut über ihre Lippen kamen.
Sie saß vielleicht zwei oder drei Minuten lang reglos über den Hals des Pferdes gebeugt da, und es war ein schieres, weiteres Wunder, dass sie diese Zeit überlebte und kein anderer Feind die Gelegenheit nutzte, den so offensichtlich wehrlos dasitzenden Tempelritter anzugreifen. Vielleicht hielt man sie auch für tot. Irgendwann klang das Wüten in ihrem Leib ab, und auch die Übelkeit verebbte, ohne ganz zu erlöschen. Taumelnd richtete sich Robin im Sattel auf, fuhr sich mit dem rauen Kettenhandschuh über die Lippen und blinzelte die Tränen weg, die ihre Augen füllten. Rings um sie herum tobte die Schlacht mit unverminderter Wucht und Härte weiter, aber alles kam ihr plötzlich irreal und ... falsch vor, als wäre sie an einem Ort, an den sie nicht gehörte. Es war vorbei. Sie hatte einen Mann zu viel getötet.
Angewidert von sich selbst, schnallte sie mit zitternden Fingern den Schwertgurt ab und warf ihn zu Boden, dann griff sie nach den Zügeln des Pferdes und ritt los. Diese Schlacht ging sie nichts mehr an. Für sie war der Krieg vorbei, und sie hatte ihn verloren. Da war noch immer eine - leiser werdende - hysterische Stimme in ihrem Kopf, die ihr zuzuschreien versuchte, dass sie feige war, ihren Eid brach und ihre Brüder im Stich ließ, dass ihr Platz an der Seite der anderen war und dass sie sich so ganz nebenbei auch noch immer in Lebensgefahr befand, denn der Anblick eines waffenlos und ohne Schild und Helm dasitzenden Tempelritters musste für jeden von Saladins Kriegern geradezu eine Einladung darstellen, sich auf sie zu stürzen, aber diese Stimme wurde leiser und hatte keine Gewalt mehr über sie. Sie würde nicht mehr töten. Sie hatte viel zu lange bei diesem Irrsinn mitgemacht. Safet, hatte Dariusz gesagt. Dort würde sie Salim wiedersehen.
Später, wenn sie über diese grässlichen Augenblicke nachdachte - und sie sollte es oft tun in endlosen, schlaflosen Nächten, in denen sie die furchtbaren Bilder heimsuchten -, sollte sie sich immer und immer wieder vergebens fragen, welchem Wunder sie es zu verdanken hatte, den Weg zum Fluss hinab lebend überstanden zu haben. Niemand griff sie an, obgleich sie zwei- oder dreimal in die Nähe erbitterter Kämpfe geriet, niemand stellte sich ihr in den Weg oder versuchte sie aufzuhalten, ja, es war, als wichen Freund und Feind vor ihr zurück, sobald sie näher kam, als wäre da ein unsichtbarer Schutzschild, der sie umgab. Es war das Pferd, das den Weg zum Fluss hinab fand, nicht sie, vielleicht weil das Tier instinktiv den einzigen Ausweg suchte, den es aus dieser Orgie des Tötens und Mordens gab.
Auch über die Ufer des Litani hatte der Krieg seinen Schatten geworfen. Das Wasser des ruhig dahinfließenden Flusses hatte sich rot vom Blut der Erschlagenen gefärbt. Die Leichen von Menschen und Tieren trieben in seinen Fluten oder hatten sich im dichten Schilf des Ufers gefangen, und auch hier war das Klirren von Waffen und das Schreien sterbender und verwundeter Männer der einzige Laut, den sie hörte. Dennoch schien die Schlacht hier nahezu vorüber zu sein.
Und nahezu verloren, wie Robin bitter begriff. Die Leichen, die mit der Strömung vorübertrieben, waren fast ausschließlich die muselmanischer Krieger, doch sie wusste auch, wie furchtbar falsch dieser Eindruck war, wurden doch die Körper erschlagener christlicher Ritter vom Gewicht ihrer Rüstungen sofort unter Wasser gezogen. Noch immer langsam reitend, waffen- und wehrlos und mit leerem Blick, erreichte sie den Gürtel aus mannshohem Schilf, der das Ufer säumte, und hielt an.