»Ihr wisst, wer ich bin«, antwortete Robin ernst. »Ich habe lange genug bei ihnen gelebt, und ich habe genug von diesen Pfeilen in der Hand gehabt. Dieser Pfeil stammt nicht von den Assassinen. Aber jemand hat sich große Mühe gegeben, ihn so aussehen zu lassen.« Tatsache war, dass sie zahllose Pfeile wie diesen nicht nur in der Hand gehabt, sondern selbst angefertigt hatte. Und dass sie ausgezeichnet damit umgehen konnte. Hätte sie - oder irgendein Assassine, den sie kannte - diesen Pfeil abgeschossen, wäre Balduin jetzt nicht mehr in der Lage, diese Frage zu stellen. Allerdings zog sie es vor, das nicht laut zu sagen, zumindest im Moment noch nicht.
»Das ist interessant«, murmelte Balduin. Er wandte kurz den Kopf, um in die Richtung zu blicken, in die die Reiter verschwunden waren, dann schob er den Pfeil unter seinen Gürtel und versuchte aufzustehen, sank aber mit einem schmerzerfüllten Grunzen wieder zurück, als er sein rechtes Bein zu belasten versuchte. Stöhnend streckte er die Hand nach Robin aus. »Ich muss mich noch weiter bei Euch verschulden, fürchte ich«, ächzte er. »Bitte helft Eurem lahmen König aufzustehen. Sosehr mich unsere kleine Plauderei auch amüsiert, fürchte ich doch, dass dringende Geschäfte auf mich warten. Ich muss noch einen Krieg verlieren.«
Robin musste gegen ihren Willen lachen. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung zog sie Balduin auf die Füße, und der König legte ihr ohne viel Federlesens den Arm um die Schulter und stützte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie. Robin ächzte, und sie redete sich sogar selbst mit Erfolg ein, dass es einzig an seinem Gewicht lag. Balduin war kaum größer als sie, aber er trug immerhin einen Zentner Eisen am Körper, wenn nicht mehr.
»Ich sagte doch, es steckt nicht an«, sagte Balduin gepresst. Anscheinend bereitete ihm sein verletztes Bein große Schmerzen. »Und wenn doch, mache ich Euch zum Hauptmann meiner neuen Wache.«
Robin hatte nicht einmal Luft, um zu antworten. Balduin war zweifellos verletzt, aber auch sie befand sich in keinem sehr viel besseren Zustand. Die kurze Rast am Rande des Schlachtfeldes hatte ihr gut getan, aber sie machte sich nichts vor. Weniger als eine Pfeilschussweite entfernt tobte die wütende Schlacht mit unverminderter Heftigkeit weiter. Wenn sie kein Pferd fand, waren ihre Aussichten, lebend sicheres Gelände zu erreichen, gleich null.
Balduin blieb plötzlich stehen und sog erschrocken die Luft ein, und auch Robin sah alarmiert hoch. Gleich drei Reiter sprengten in gestrecktem Galopp auf sie zu, christliche Ritter in wehenden Mänteln und mit schweren Rüstungen, in denen Robin auf den zweiten Blick Mitglieder derselben Gruppe erkannte, die gerade tatenlos davongesprengt war, statt dem König zu helfen. Auch der Reiter mit der Armbrust war unter ihnen. Er hatte seine Waffe wieder gehoben und versuchte sie im Reiten zu spannen, während die beiden anderen lange Bögen hielten, auf deren Sehnen schwarze Pfeile lagen.
»Was zum Teufel ...?«, keuchte Balduin.
Hinter den drei Rittern preschte eine weitere, schlanke Gestalt heran. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet und hielt ebenfalls einen Bogen in der Hand, mit dem sie auf einen der Reiter schoss, scheinbar ohne auch nur gezielt zu haben. Trotzdem traf der Pfeil den vordersten Reiter mit tödlicher Präzision und schleuderte ihn aus dem Sattel.
Die beiden anderen schossen im gleichen Augenblick. Der Bogenschütze bewegte sich zu hastig und verriss seine Waffe, sodass der Pfeil sein Ziel verfehlte und harmlos meterweit entfernt in den Boden fuhr, doch dafür zielte der andere Mann mit umso größerer Präzision. Robin sah, wie Salim herangejagt kam und seinen Bogen gegen einen blitzenden Krummsäbel austauschte, den er mit gewaltiger Kraft nach dem Schädel des Armbrustschützen schwang, und sie sah auch, dass er treffen würde, und dennoch war er nicht schnell genug. Der Finger des Mannes krümmte sich um den Abzug seiner heimtückischen Waffe, und Robin reagierte, ohne zu denken, und warf sich schützend vor den König.
Einen Pfeil hätte das schwere Kettenhemd, das sie unter ihrem zerrissenen Wappenrock trug, vielleicht selbst auf die kurze Entfernung aufgehalten, aber es war kein Pfeil, der sie traf. Der Bolzen durchschlug ihr Kettenhemd, ihre Schulter und selbst noch die Haut in ihrem Rücken.
Aber das merkte sie schon nicht mehr.
19. KAPITEL
Eine weiche und sehr kleine Hand lag auf ihrer Stirn, als sie erwachte, und das Erste, was sie spürte, war, dass viel Zeit vergangen sein musste; nicht Stunden, sondern Tage, und deutlich mehr als einer oder zwei. Sie hatte schrecklichen Durst. Der schlechte Geschmack eines Fiebers, das sie noch lange nicht überstanden hatte, war in ihrem Mund, und hätte sie sich nicht mit aller Kraft dagegen gewehrt, dann wären die Bilder eines furchtbaren Albtraumes über sie hergefallen, den sie durchlitten hatte, während sie besinnungslos dagelegen hatte.
Ganz schien er noch nicht vorbei zu sein - auch wenn es jetzt sicherlich kein Albtraum mehr war -, denn das Erste, was sie sah, als sie die Augen aufschlug, war ein Gesicht, das es hier gar nicht geben konnte. Darüber hinaus handelte es sich um eine höchst hartnäckige Vision, denn sie weigerte sich nicht nur zu verschwinden, als sie mit den Augen blinzelte, sondern strahlte sie im Gegenteil an und sprang mit einem Satz von dem Hocker, auf dem sie bisher gesessen hatte, und stürmte so schnell davon, dass ihre Zöpfe wild auf und ab hüpften. »Sie ist wach! Sie ist wach!«, schrie sie immer wieder. »Sie ist wach! Schnell!«
Verwirrt stemmte sich Robin auf die Ellbogen hoch, brachte die Bewegung aber nur halb zu Ende. Ihre linke Schulter schmerzte höllisch, und als sie den Kopf drehte und an sich herabsah, erkannte sie, dass sie unförmig angeschwollen und so dick bandagiert war, dass sie wie eine Buckelige aussah. Auf der anderen Seite des kleinen Zimmers, in dem sie aufgewacht war, fiel eine Tür ins Schloss, aber sie hörte Nemeths aufgeregte Stimme noch immer durch das Holz dringen.
Nemeth? Aber wieso ...?
Eine wilde Hoffnung loderte in Robin auf. Sie setzte sich mit einem Ruck hoch und sah sich um, erreichte damit aber nicht mehr, als dass ihr schwindelig wurde und sie mit einem zwischen den Zähnen hervorgepressten Stöhnen wieder zurücksank.
Mit geschlossenen Augen wartete sie, bis die Dunkelheit hinter ihren Lidern aufgehört hatte, sich wild im Kreise zu drehen, bevor sie die Augen abermals aufschlug und sie sich noch einmal umsah. Ihre Hoffnung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das kleine Zimmer, in dem sie aufgewacht war, war praktisch leer und hatte nur ein kleines, außerhalb ihres Gesichtsfeldes liegendes Fenster und ließ praktisch keine Rückschlüsse auf ihren Aufenthaltsort zu, aber der graue Stein der Wände gehörte ganz eindeutig nicht zu den aus dem gewachsenen Fels herausgehauenen Mauern Masyafs.
Aber wenn sie nicht in Sinans Festung war, wie kam dann Nemeth hierher?
Sie fühlte sich noch zu benommen und auf eine sonderbar unangenehme Art schlaftrunken, um wirklich über diese Frage nachzudenken, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Mädchen schließlich genug Lärm machte. Zweifellos würde gleich jemand kommen, der all ihre Fragen beantwortete.
Sie schloss wieder die Augen und lauschte in sich hinein. Ihre Schulter tat weh, wenn auch nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte, wenigstens solange sie sich nicht bewegte. Wo ihre Erinnerungen sein sollten, war nur ein Durcheinander aus größtenteils unangenehmen Bildern und aufblitzenden Impressionen, Geräuschen und erstaunlicherweise Gerüchen, die ihr von allem vielleicht am meisten zu schaffen machten.
Auch darüber machte sie sich keine allzu großen Sorgen. Es gehörte gewiss nicht zu ihrem Alltag, das Bewusstsein zu verlieren, aber es war auch nicht das erste Mal, und sie mutmaßte, dass ihre Erinnerungen zurückkehren würden, wenn sie sich nur ein wenig Zeit ließ. Sie war nicht einmal ganz sicher, ob sie sich wirklich erinnern wollte. Sie war verletzt worden, und ...