»Der Großmeister ist gefallen?«, entfuhr es Robin.
Abbé schüttelte den Kopf und schlug hastig das Kreuzzeichen.
»Gottlob nein. Aber er ist in Gefangenschaft geraten, zusammen mit nur zu vielen anderen.« Er hob die Schultern. »Das ist nicht nur für dich und mich ein schwerer Schlag, sondern für den gesamten Orden - auch wenn der eine oder andere hinter vorgehaltener Hand meint, es wäre nur Gottes gerechte Strafe, nach dem, was er getan hat.«
»Was hat er denn getan?«, erkundigte sich Robin.
»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete Abbé. »Außer vielleicht, dass er den Krieg für uns verloren hat.«
»Er hat was?«, wiederholte Robin.
»Mancher behauptet, es wäre so«, bestätigte Abbé. »Wir hätten die Schlacht gewinnen müssen, Robin. Unser Heer war ebenso stark wie das der Heiden, selbst mit Saladins so überraschend aufgetauchten Männern! Wir hätten siegen müssen, und wir hätten gesiegt, ohne Odos selbstmörderischen Angriff. Wir hätten sie zerschmettert. Doch als das Baussant zurückwich, ist der ganze Angriff zusammengebrochen.« Er schüttelte zornig den Kopf. »Dieser Narr! Ich achte und verehre ihn als Mensch, aber er hängt zu sehr an den Buchstaben unserer Ordensregeln! Kein Soldat Christi weicht vor dem Angesicht des Feindes zurück, es sei denn, er ist in mehr als dreifacher Überzahl! Pah! Es war die zehnfache Überzahl, in diesem Moment!«
»Das konnte er nicht sehen«, antwortete Robin. »Wir befanden uns in einem Tal. Wir hatten keine Sicht auf das Schlachtfeld.«
Abbé wirkte ehrlich verblüfft, ausgerechnet sie Odo von Saint-Amand verteidigen zu hören, dann aber ballte er nur umso wütender die Faust; fast wie um ihre Worte zu packen und zwischen den Fingern zu zerquetschen. »Dann hätte er Späher vorausschicken müssen«, beharrte er, und Robin fügte noch leiser hinzu: »Und es war nicht er, der den Angriff befohlen hat.«
Diesmal starrte Abbé sie länger an. Er schwieg.
»Es war nicht Odo, der den Angriff befohlen hat«, sagte Robin noch einmal. »Es war Bruder Dariusz. Odo hat sich, im Gegensatz zu Graf Raimund, von ihm mitreißen lassen. Das ist das einzige Versäumnis, das Ihr ihm vorhalten könnt, soweit ich das beurteilen kann.«
Abbé starrte sie weiter durchdringend an. Fassungslos? »Das kann nicht sein«, sagte er schließlich. »Gerhard von Ridefort behauptet ebenfalls ...«
»Dann lügt er«, unterbrach ihn Robin. Sie war selbst ein wenig überrascht über die Schärfe in ihrer Stimme, aber sie wurde eher noch lauter, als sie fortfuhr: »Ich weiß, was ich gesehen habe!«
»Das ist eine sehr schwere Anschuldigung, die du da vorbringst, Robin«, sagte er schließlich. »Ist dir das klar? Nicht nur Marschall Ridefort bestätigt Dariusz’ Darstellung der Dinge, sondern auch zahlreiche Ritter aus seinem unmittelbaren Gefolge.«
»Dann lügen sie alle«, sagte Robin wütend. »Ich weiß, was ich gesehen habe! Sagt, Bruder Abbé - wenn der Großmeister nicht zurückkommt, wer wird dann sein Nachfolger?«
Abbé japste hörbar nach Luft, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Doch seine Reaktion fiel ganz anders aus, als Robin erwartet hatte. »Was erdreistest du dich?«, fuhr er sie an. Seine Augen blitzten. Für einen Moment wirkte er so wütend, dass Robin nicht überrascht gewesen wäre, hätte er sie geschlagen.
»So etwas will ich nie wieder von dir hören, hast du mich verstanden? Nie mehr!«
»Verzeiht, Bruder«, sagte Robin steif. »Das war respektlos, und ich entschuldige mich dafür. Aber was das andere angeht, so bleibe ich bei dem, was ich gesehen habe.«
Abbé ließ sich wieder zurücksinken. Seine Hände zitterten.
»Das ... das ist ungeheuerlich«, murmelte er. »Ja ... aber jetzt ergibt alles einen Sinn ...«
»Was ergibt einen Sinn?«, fragte Robin.
Abbé ignorierte die Frage. »Ich glaube dir, Robin«, sagte er ernst. »Doch das allein wird uns nicht viel nutzen, fürchte ich. Nicht, wenn Dariusz und Ridefort und so viele andere das Gegenteil behaupten.«
»Graf Raimund kann meine Darstellung bestätigen«, sagte Robin nach kurzem Überlegen. »Er hat sich fast die Kehle aus dem Leib geschrien, um uns aufzuhalten.«
Abbé schüttelte traurig den Kopf. »Nicht einer von Raimunds Männern ist aus der Schlacht zurückgekehrt«, sagte er. »Raimund selbst liegt schwer verwundet darnieder. Er wurde am Kopf getroffen. Niemand weiß, ob er sich je wieder erholen wird oder ob er vielleicht blöde bleibt.« Er schüttelte erneut den Kopf, dann stand er mit einem Ruck auf und seufzte tief. »Umso richtiger war unsere Entscheidung, dich hier zu verstecken«, fuhr er fort, während er mit kleinen, unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Ich werde sofort einen Reiter nach Safet schicken, um Bruder Horace Anweisungen zu erteilen.« Er blieb stehen und sah sie mit einem sonderbar freudlosen Lächeln an.
»Mein Beileid, Bruder Robin«, sagte er. »Ihr seid gerade gestorben.«
»Das ist das erste halbwegs kluge Wort, das ich von Euch höre, Tempelherr«, sagte Salim von der Tür aus. Robin hatte weder gehört, wie er sie geöffnet hatte, noch wie und wann er hereingekommen war.
Abbé musste es wohl ähnlich ergangen sein, denn er maß Salim mit einem nicht besonders erfreuten Blick und fragte scharf: »Wie lange steht Ihr schon da hinter der Tür und lauscht, Assassine?«
»Wie Ihr selbst sagt, Tempelherr«, erwiderte Salim ruhig, »ich bin ein Assassine. Und wir sind im Haus eines Assassinen. Glaubt Ihr wirklich, ich hätte es nötig zu lauschen?« Er erwartete keine Antwort auf diese Frage, sondern ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei, und nun gab es für Robin kein Halten mehr. Mit einem Schrei sprang sie aus dem Bett, warf sich in Salims Arme und küsste ihn so wild und fordernd, dass er unter ihrem Ansturm zurücktaumelte und tatsächlich um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Erst als in ihren Lungen keine Luft mehr war und sie das Gefühl hatte, im nächsten Moment ersticken zu müssen, lösten sich ihre Lippen von den seinen, aber nur ihre Lippen; als er zurückweichen wollte, zog sie ihn nur umso fester an sich.
»Nichts da«, sagte sie atemlos. »Ich lasse dich nie wieder gehen.«
»Das ist wahrscheinlich ein typisches Frauenversprechen«, griente Salim. »Es hält gerade so lange, wie man braucht, um es auszusprechen.«
Robin knuffte ihm in die Rippen und küsste ihn wieder, diesmal nicht so stürmisch und fordernd wie gerade, sondern sanft und zärtlich. Neben ihr räusperte sich Bruder Abbé übertrieben, aber Robin ignorierte ihn einfach. Ihre Zunge tastete über seine Lippen und seine Zähne, suchten den Weg dazwischen hindurch und die Berührung seiner eigenen Zunge. Doch plötzlich zog sich Salim zurück und drehte den Kopf auf die Seite.
»Was?«, fragte Robin.
»Oh, äh ... nichts«, antwortete Salim, eine Spur zu hastig und nicht überzeugend, zumal er dabei ihrem Blick auswich. »Es ist alles in Ordnung. Wirklich. Ich meine, du ... du küsst wirklich gut ... für eine Tote.«
»Wie?«, fragte Robin lauernd.
Salim beeilte sich zu nicken. »Bestimmt. Das Problem ist nur, du ... du schmeckst auch ein bisschen so.«
»He!«, protestierte Robin. »Du hast mich schon an ganz anderen Stellen ...«
»Da warst du auch gewaschen und parfümiert«, antwortete Salim, »und hast nicht zwei Wochen im Fieber dagelegen und all die Zeit den Zaubertrank meines Vaters genossen. Ich meine: Er ist wirklich gut. Selbst ich verdanke ihm mein Leben. Aber das ändert leider nichts daran, dass er schmeckt wie ein Kamel am falschen Ende.«
Wahrscheinlich hatte er damit sogar Recht, dachte Robin, während sie sich mit der Zungenspitze über die Zähne fuhr. Wenn ihre Küsse so schmeckten wie das, was sie jetzt empfand, dann musste Salim sie noch weit mehr lieben, als sie bisher geglaubt hatte.