»Meine Mutter hat mich zu Euch geschickt, Herrin«, sagte Nemeth, ohne ihre Frage zu beantworten. »Sie wird den ganzen Tag fortbleiben. Salim hat sie mitgenommen, damit sie ihm hilft. Sein Vater kommt wohl mit einem großen Gefolge, und es sind eine Menge Vorbereitungen zu treffen.« Sie warf Robin einen schrägen Blick zu. »Sie werden den ganzen Tag fortbleiben, bestimmt bis Sonnenuntergang, wenn nicht länger.«
»Und was genau willst du mir damit sagen?«, fragte Robin.
»Ich?« Nemeth riss in gespielter Empörung die Augen auf.
»Aber ich würde doch nie ...«
»Wir müssten zurück sein, bevor Salim wieder hier ist«, fuhr Robin nachdenklich fort. »Und was ist, wenn jemand hereinkommt und sieht, dass ich nicht mehr da bin?«
»Wer außer mir, meiner Mutter und Salim war denn bisher hier in Eurem Zimmer?«, fragte Nemeth.
Niemand, pflichtete ihr Robin in Gedanken bei. Der Grund, aus dem Salim sie hier in diesem Haus untergebracht hatte, war ja eben der, dass niemand außer ihm selbst und Saila und ihrer Tochter sie zu Gesicht bekam. Vielleicht, überlegte sie, war das auch der Grund, aus dem er ihr nicht gestattet hatte, auch nur dieses Zimmer zu verlassen. Wie Bruder Abbé vor ein paar Tagen gesagt hatte: Ein Geheimnis war umso besser gewahrt, je weniger um seine Existenz wussten.
Sie drehte sich wieder zum Fenster. Natürlich war schon die bloße Idee verrückt, aber auf der anderen Seite ... sie würde Jerusalem in wenigen Tagen verlassen, um zusammen mit Salim und seinem Vater zum Berg Masyaf zurückkehren, und irgendetwas sagte ihr, dass sie vielleicht nie wieder hierher kommen würde. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie eines Tages ihren Enkelkindern davon erzählen würde. Oh, aber sicher war ich in Jerusalem. Eine ganze Woche. Natürlich habe ich die Stadt gesehen. Einen Ausschnitt von zwei Fuß Breite und vier Fuß Höhe. Eine wunderbare Vorstellung.
»Ich bräuchte ... ein anderes Kleid«, sagte sie zögernd. »So kann ich schlecht auf die Straße gehen.«
»Nicht, ohne aufzufallen«, bestätigte Nemeth. »Ihr habt fast dieselbe Statur wie meine Mutter. Ich glaube, eines von ihren Kleidern müsste Euch passen.« Sie trat mit einem gespielten Seufzen vom Fenster zurück. »Es wird ohnehin Zeit, Euren Verband zu wechseln. Meine Mutter hat mir aufgetragen, es ja nicht zu vergessen. Ich bin nur immer so furchtbar ungeschickt mit der Salbe. Am Ende verderbe ich Euch noch das Kleid.«
»Dann solltest du auf jeden Fall ein Kleid zum Wechseln mitbringen«, sagte Robin ernsthaft.
»Eine gute Idee«, antwortete Nemeth. Sie ging. Robin blickte ihr lächelnd nach, aber ihr Gesicht wurde wieder ernst, als sie sich erneut zum Fenster wandte und hinausblickte.
Also würde sie Jerusalem sehen. Natürlich war ihr klar, wie verrückt das war, was sie und Nemeth vorhatten. Es wäre nicht nur Wasser auf Salims Mühlen, wenn er davon erfuhr, er würde auch Nemeth streng bestrafen, von dem, was ihre Mutter mit ihr tun würde, gar nicht zu sprechen. Aber in diesem Moment fühlte sich Robin dem Mädchen weitaus näher als allen anderen hier. Allein der Gedanke an das, was vor ihnen lag, bescherte ihr ein kribbelndes Gefühl, das sie allzu lange vermisst hatte. Ganz plötzlich fühlte sie sich wieder wie das naive kleine Mädchen, als das sie ihr Leben vor so langer Zeit im fernen Friesland begonnen hatte, und es war ein gutes Gefühl. O ja, Salim würde der Schlag treffen, wenn er davon erfuhr - aber sie freute sich schon darauf, es ihm zu erzählen. Später, irgendwann, wenn sie zurück in Masyaf waren.
Nemeth kam nach wenigen Augenblicken zurück. Sie brachte nicht nur Verbandszeug und Salbe, sondern auch ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihrer Mutter gehörte, und zwei kleine irdene Töpfe mit. Während sie alles zu einem unordentlichen Stapel auf dem Fußboden aufhäufte, ließ sich Robin auf der Bettkante nieder, streifte ihr Kleid bis zur Hüfte herunter und begann mit zusammengebissenen Zähnen den Verband zu entfernen.
Prüfend bewegte sie die Schulter. Es tat noch ein bisschen weh, ging aber besser, als sie erwartet hatte. Vielleicht noch zwei oder drei weitere Wochen, dachte sie, und sie würde die Schulter wieder ganz normal bewegen können. Raschids Salbe hatte wahre Wunder gewirkt.
Nemeth trug ihr frische Salbe auf und begann ihre Schulter dann mit erstaunlichem Geschick neu zu verbinden. Sie legte die Bandagen fester an als bisher, sodass sie Robins Bewegungen zwar deutlich mehr behinderten, unter ihrer Kleidung aber kaum noch auftragen würden.
Ais sie fertig war, machte Robin eine auffordernde Geste in Richtung des mitgebrachten Kleides, doch Nemeth schüttelte den Kopf und griff stattdessen nach den beiden kleinen Tontöpfen. »Zuerst das. Wir wollen Eure Verkleidung doch perfekt machen, oder? Hier - reibt Euch damit ein.«
Sie nahm den Deckel von einem der Tiegel, und Robin erblickte eine braune, cremige Substanz, von der ein leicht unangenehmer Geruch ausging.
»Keine Sorge«, sagte Nemeth, als sie ihren zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkte. »Es ist nur einfache Schminke. Ihr könnt sie mit Wasser und Seife wieder abwaschen.«
Robin war noch nicht überzeugt. Was sollte das? Ihre Haut war nach zwei Jahren unter der unbarmherzigen Sonne des Orients zwar immer noch nicht so dunkel wie die Nemeths oder ihrer Mutter, aber auch längst nicht mehr so bleich, um sie sofort zu verraten. Nemeth bestand jedoch mit einem so hartnäckigen Nicken darauf, dass sie die Schminke auftrug, dass Robin schließlich aufgab und sich das Gesicht, Hände und Arme bis hinauf zu den Ellbogen eincremte.
Das Ergebnis war verblüffend. Nemeth hatte keinen Spiegel mitgebracht, sodass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, doch die Haut auf ihren Händen und Unterarmen hatte nun genau denselben Farbton wie die des Mädchens.
»Sehr gut«, lobte Nemeth. »Und jetzt das Kleid.« Sie hatte sichtlich Freude daran, das Kommando zu übernehmen, und Robin ließ sie gewähren - auch wenn sie immer noch nicht ganz verstand, was dieser Mummenschanz eigentlich sollte. Sie kannte Orientalinnen, die einen helleren Teint hatten als sie.
Nemeth ging zur Tür, spähte einen Moment auf den Flur hinaus und bedeutete ihr dann mit einer verschwörerischen Geste, ihr zu folgen, winkte aber praktisch sofort wieder ab und deutete heftig gestikulierend auf ihr Gesicht.
»Was?«, fragte Robin. Sie verstand nicht.
»Euer Kopftuch, Herrin«, sagte Nemeth. »Mutter, wollte ich sagen. Und der Schleier.«
Robin streifte das schwarze Kopftuch über, zögerte aber, den Schleier vor dem Gesicht zu befestigen. Wozu hatte sie sich geschminkt, wenn sie ihr Gesicht dann nahezu vollkommen verbergen sollte? Schließlich aber gab sie auch diesmal auf, befestigte den Schleier und folgte Nemeth auf den Flur hinaus.
Das Haus schien leer zu sein. Von irgendwoher drangen Geräusche an ihr Ohr, aber es war nichts Bedrohliches daran. Robin blieb trotzdem aufmerksam. Dies hier war ein Haus der Assassinen. Dass sie keine Wachen sah, bedeutete nicht, dass es keine gab.
Der Korridor besaß zwei weitere Türen auf derselben Seite, aber kein Fenster, sodass nur ein wenig blasses Licht vom Fuße der Treppe heraufdrang, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Irgendwo dort unten bewegte sich etwas. Sie sah das Flackern von Schatten.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Nemeth laut, als sie die aus Lehmstufen gefertigte Treppe hinabstiegen. »Es ist ein weiter Weg bis zum Basar, und wahrscheinlich werden die Händler wieder stundenlang feilschen und uns unnötig aufhalten.«
Robin begann ganz allmählich zu dämmern, was Nemeths sonderbares Benehmen zu bedeuten hatte - vor allem, als sie die in einen schmuddeligen weißen Burnus gehüllte Gestalt sah, die mit lässig vor der Brust verschränkten Armen an der Wand neben der Tür lehnte und so tat, als beobachte sie gelangweilt das Treiben auf der Straße. Der Mann trug normale Kleidung und keine Waffen, aber Robin erkannte einen Assassinen, wenn sie ihn sah.