Sie erkannte sogar diesen Assassinen.
Sie hatte ihn ein paar Mal auf Masyaf gesehen, wenn auch nur flüchtig, und sie konnte nur hoffen, dass es ihm umgekehrt genauso erging. Rasch senkte sie den Blick - nicht so weit, dass es auffiel - und dankte Nemeth im Stillen dafür, dass sie auf dem Schleier bestanden hatte. Der Mann gehörte nicht zu Salims oder Raschid Sinans Leibwache. Wenn er ihr Gesicht überhaupt schon einmal gesehen hatte, dann allerhöchstens aus großer Entfernung und nur kurz. Dennoch begann ihr Herz schneller zu schlagen, als sie dicht hinter Nemeth das Haus verließ und an dem Assassinen vorbeiging. Er rührte sich nicht, aber Robin glaubte den misstrauischen Blick seiner Augen regelrecht zwischen den Schulterblättern zu spüren.
»Jetzt beeil dich schon, Mutter«, drängelte Nemeth. »Immer trödelst du herum!«
Robin versetzte ihr einen Klaps mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf, und das Mädchen verzog übertrieben das Gesicht und beeilte sich weiterzustolpern, während sie die Hand hob und sich den Schädel rieb. Als Robin ihr folgte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie der Assassine flüchtig lächelte und seine Aufmerksamkeit dann wieder seiner eigentlichen Aufgabe zuwandte, nämlich so zu tun, als wäre er gar nicht da.
»Wieso habt Ihr mich geschlagen?«, fragte Nemeth vorwurfsvoll, als sie außer Hörweite des Assassinen waren.
»Weil deine Mutter es auch getan hätte für diese vorlauten Worte«, antwortete Robin. »Und wir wollen doch schließlich kein Aufsehen erregen, oder?«
Nemeth rieb sich weiter den Schädel, obwohl Robin ihr wirklich kaum mehr als einen freundschaftlichen Klaps gegeben hatte, beließ es aber bei einem vorwurfsvollen Blick. Am Ende der Straße wandte sie sich nach links, und erst jetzt, als sie sicher außer Sichtweite des Wächters waren, wagte es Robin, vorsichtig aufzuatmen und den Kopf zu heben.
Die Straße, auf der sie sich nun befanden, unterschied sich in nichts von zahllosen Straßen in zahllosen Städten, in denen sie schon gewesen war. Nahe an der Stadtmauer gelegen, war sie weit vom Zentrum Jerusalems mit all seinen Wundern und fantastischen Kirchen, Palästen und anderen großartigen Bauwerken entfernt, und es entsprach auch ganz der Art der Assassinen, nicht in einem Palast zu residieren, sondern eher unsichtbar zu bleiben. Dennoch war sie enttäuscht. Auch wenn sie wusste, wie unsinnig es war, so hatte sie doch einfach etwas anderes erwartet. Sie wusste selbst nicht, was, aber auf jeden Fall irgendetwas, das ihrer Vorstellung von der heiligsten Stadt der Christenheit mehr entsprach.
»Wohin gehen wir zuerst?«, fragte Nemeth aufgeregt. »Die Grabeskirche? Der Palast des Königs? Der Tempelberg?«
»Kennst du denn all diese Orte?«, fragte Robin überrascht.
»Nicht alle«, gestand Nemeth kleinlaut. »Aber ich habe davon gehört. Und der Basar ist ganz in der Nähe des Tempelberges.«
Sie kicherte. »Ich habe ein wenig Geld eingesteckt. Wir könnten ein paar Einkäufe erledigen. Auf diese Weise«, fügte sie nachdenklich hinzu, »hätten wir nicht einmal gelogen. Oder wenigstens nur ein bisschen.«
Robin musste gegen ihren Willen lachen. Das Mädchen fand offensichtlich mit jedem Moment mehr Gefallen an dem Spiel, das sie spielten - und warum auch nicht? Ihre Verkleidung war immerhin gut genug gewesen, selbst einen Assassinen zu täuschen, und Salim hatte den Mann gewiss nicht wegen seiner Unzuverlässigkeit ausgewählt. Darüber hinaus wusste niemand, dass sie in der Stadt war. Genau genommen wusste nicht einmal jemand, dass es sie überhaupt gab. Nein, versicherte sie sich noch einmal selbst in Gedanken, ihre Tarnung war perfekt. In dem schlichten schwarzen Kleid und mit ihrer dunkleren Haut würde sie nicht einmal Dariusz erkennen.
»Warum nicht?«, stimmte sie achselzuckend zu. »Geh voraus.«
Nichts anderes - das machte der spöttische Blick klar, den Nemeth ihr über die Schulter zuwarf, hatte das Mädchen vorgehabt. Robin sagte auch dazu nichts, nahm sich aber vor, es damit gut sein zu lassen. Nemeth war in geradezu euphorischer Stimmung, was sie ihr gönnte, aber sie war ein Kind, und sie musste aufpassen, dass sie in ihrer Ausgelassenheit nicht sie beide in Gefahr brachte.
»Es ist ein Umweg«, sagte Nemeth, »aber wir könnten am großen Tempel vorbeigehen. Würde Euch das gefallen?«
Robin signalisierte mit einem stummen Nicken ihre Zustimmung, und Nemeth wandte sich am Ende der Straße abermals nach links, sodass sie sich nun wieder in Richtung des Josefstores bewegten, durch das sie die Stadt auch betreten hatten, wie Robin von Saila erfahren hatte. Endlich aber lag der gewaltige Komplex des Templum Domini vor ihnen. Die riesige goldene Kuppel und die Wände aus glasierten, blauen Ziegeln des Gebäudes beeindruckten Robin über die Maßen, aber sie gaben ihr auch das Gefühl, winzig und unwichtig zu sein, und das auf eine unangenehme, demütigende Art. Nie zuvor hatte sie ein solches Gotteshaus gesehen. An seinen wuchtigen Mauern, den kantigen Linien und den riesigen Torbögen war etwas, das sie schaudern ließ. Kathedralen, so hatte Bruder Abbé ihr einmal erklärt, werden gebaut, um den Menschen Gottes Größe und Allmacht vor Augen zu führen. Das mochte ja auch die Absicht des Baumeisters gewesen sein, der diese Kirche geplant und gebaut hatte, aber das Ergebnis wirkte - zumindest auf Robin - ganz anders. Dieses Gebäude führte ihr nicht die Größe Gottes vor Augen, sondern die Kleinheit des Menschen. Der Gott, zu dessen Lobpreisung und Ehre dieses Monstrum von Kirche gebaut worden war, konnte sich gar nicht für die Schicksale der Menschen interessieren.
Am Ende des Platzes neben dem Templum Domini lag ein wuchtiger Palast, dessen Fassade von insgesamt sieben riesigen Toren gebildet wurde: das Hauptquartier der Templer, nicht nur hier in Jerusalem. Auch über diesem Gebäude erhob sich eine Kuppel, die jedoch viel kleiner war als jene des Templum Domini. Robin fühlte sich angesichts der gigantischen Abmessungen nicht nur des Platzes, sondern auch der riesigen Gebäude ringsum verloren. Eine sonderbar gestaltlose, aber tiefe Enttäuschung begann sich in ihr breit zu machen. Sie fragte sich, warum sie überhaupt hierher gekommen war. Als sie sich dem Tempel genähert hatten, da hatte sie es fast bedauert, statt des einfachen schwarzen Kleides nicht ihr Templergewand angelegt zu haben. Obwohl farbige Burnusse, Kopftücher und Turbane auch in der heiligsten Stadt der Christenheit weit in der Überzahl waren, stellte auch der Wappenrock eines Templers oder eines anderen christlichen Ritters nichts Außergewöhnliches dar, und in ihrem weißen Ordensgewand hätte sie die Kirche ohne Probleme betreten dürfen. Noch vor zwei Wochen hätte sie ihr Leben für einen einzigen Blick in diesen heiligsten aller Orte riskiert. Jetzt war sie nicht einmal mehr sicher, ob sie ihn überhaupt noch sehen wollte.
»Starrt den Tempel nicht so an, Herrin«, zischte Nemeth. »Ihr zieht bereits neugierige Blicke auf Euch.«
Robin hätte beinahe widersprochen und sie angefahren, ob sie sich als Templer etwa nicht das Hauptquartier ihres eigenen Ordens ansehen dürfe, bis ihr im letzten Moment einfiel, dass sie nicht als Tempelritter auf dem Platz stand, sondern als einfache muslimische Frau ohne Stand und Rang. Schließlich kannte sie ihre Ordensbrüder gut genug, um zu wissen, dass schon ein falsches Wort oder ein zu neugieriger Blick ausreichen konnte, um sie als Spionin zu verdächtigen.
»Hast du nicht etwas ... von einem Basar gesagt?«, fragte sie stockend.
»Auf der anderen Seite des Berges«, bestätigte Nemeth. Sie sah Robin verwirrt an, denn der sonderbar niedergeschlagene Ton in ihrer Stimme war ihr keineswegs entgangen.
»Dann lass uns dorthin gehen«, sagte Robin müde. Vielleicht waren das Stimmengewirr und Durcheinander eines orientalischen Basars ja genau das, was sie im Moment brauchte, um ihre düsteren Gedanken wenigstens etwas aufzuhellen. Nemeth warf ihr einen neuerlichen, noch verwirrteren Blick zu, deutete aber dann nur ein Schulterzucken an und ging los.