Wieder nahm sie das Labyrinth kleinerer Sträßchen und Gassen auf, als sie den Vorplatz des Großen Tempels hinter sich ließen. Obwohl es noch früh war, herrschte auf den Straßen bereits ein reges Treiben. Männer und Frauen, die meisten - aber nicht alle - mit verhüllten Gesichtern, gingen ihrer Wege, standen zusammen und unterhielten sich oder eilten mit verbissenen Gesichtern und weit ausgreifenden Schritten an ihr vorüber. Eine angespannte Atmosphäre schien über der gesamten Stadt zu liegen, und Robin war sicher, auf mehr als einem Gesicht auch einen Ausdruck mühsam unterdrückter Furcht zu erkennen.
Mehr als einmal kamen ihnen Ritter in Waffen und prachtvollen Kleidern entgegen, einmal sogar eine Gruppe von drei ihrer eigenen Ordensbrüder, denen die Einheimischen beinahe angstvoll Platz machten. Und auch die Blicke, die den in strahlendes Weiß und blutfarbiges Rot gehüllten Gestalten folgten, waren alles andere als freundlich. Robin las Furcht in den dunklen Augen der Einheimischen, aber auch Trotz, und hier und da sogar fast so etwas wie Hass. Waren ihr, wenn sie in ihrer Rolle als Tempelritter durch die Straßen einer Stadt geschritten war, ebensolche Blicke gefolgt?
Sie wollte es nicht, aber plötzlich hörte sie, so deutlich, als hätte sie sie tatsächlich laut ausgesprochen, noch einmal Nemeths Worte von vorhin. Die heiligste Stadt der Christenheit. Und warum liegt sie dann in unserem Land?
Robin verscheuchte auch diesen Gedanken und signalisierte Nemeth stumm, schneller zu gehen. Sie war nicht mehr wirklich sicher, ob es tatsächlich eine so gute Idee gewesen war, das Haus zu verlassen und hierher zu kommen.
Aber sie war natürlich auch viel zu stolz, um dies - schon gar nicht vor Nemeth - zuzugeben.
Sie benötigten eine gute halbe Stunde, um den Basar zu erreichen, der tatsächlich genau auf der anderen Seite des Tempelberges lag. Robins Blick blieb auf dem Weg dorthin mehr als einmal an der goldenen Kuppel der Grabeskirche hängen, die sie selbst in ihrer Verkleidung hätte betreten dürfen, denn sie stand allen Gläubigen offen, gleich welchem Glauben sie auch anhingen.
Vielleicht auf dem Rückweg, entschied sie. Im Moment fühlte sie sich noch nicht in der Lage, eine Kirche zu betreten, ganz gleich, zu welchem Gott darin gebetet wurde.
Der Basar lag in einer schmalen, halbdunklen Gasse, die nur auf der linken Seite von den hier typischen, eingeschossigen Häusern aus unverputzten Lehmziegeln bestand, während die rechte Seite von einer nahezu senkrecht emporstrebenden Wand aus sandfarbenem Fels gebildet wurde. Auch dort hatten Händler, Handwerker und Bauern ihre Stände aufgeschlagen, einfache Konstruktionen aus Stoff und hastig zurechtgeschnittenen Ästen zumeist, über die bunte Stoffbahnen gespannt waren, die ihren Besitzern und deren verderblichen Waren Schutz vor der unbarmherzigen Sonnenglut gewährten. Auf der anderen Seite gab es auch einige wenige Stände, zum allergrößten Teil aber wurde gleich aus den Häusern heraus verkauft.
Ein unbeschreibliches Durcheinander aus Gerüchen, Farben und Lärm drang ihr entgegen und schlug sie fast augenblicklich in seinen Bann: Sie roch frisches Fladenbrot, den exotischen Duft kostbarer Gewürze und heißes Fett, Schweiß und Rosenöl, zu ihrem nicht geringen Erstaunen den typischen Geruch gebratenen Fisches und heißen Metalls, Olivenöls und Kümmels und gebratenen Lammes, und sie hörte das Schreien der Ausrufer, die ihre Waren priesen (natürlich hatte jeder das absolut beste Angebot unter dem gesamten Firmament), das Klingen von Hämmern, die Kupfer oder anderes Metall bearbeiteten, das Blöken eines Schafes und das Brutzeln heißen Fettes, das Weinen eines Kindes und die schrillen Stimmen der Feilschenden, lautes Lachen und das Geräusch harter Stiefelschritte auf dem gepflasterten Boden, und so vielfältig wie die Geräusche und Gerüche waren auch die optischen Eindrücke, die auf sie einstürmten. Obwohl die aufgespannten Sonnensegel rechts und links der Straße das Tageslicht zu einem matten, sonderbar buntfarbenen Zwielicht dämpften, hatte sie im allerersten Moment doch nur den Eindruck einer wahren Explosion von Farben, die von Kleidern, feilgebotenen Schmuckstücken und Teppichen, blitzenden Kupferkesseln und polierten Waffen ausgingen, die von ihren Besitzern mit typisch orientalischem Stolz zur Schau getragen wurden. Es herrschte ein unbeschreibliches Gedränge.
»Bleibt immer dicht bei mir, Herrin«, sagte Nemeth. »Nicht, dass wir uns am Ende verlieren und ich Euch suchen muss.«
Diese Sorge mochte nicht einmal unbegründet sein, aber Nemeths Worte waren trotzdem eine glatte Unverschämtheit, die Robin für einen Moment die Sprache verschlug. Sie kam jedoch nicht dazu, den strengen Verweis loszuwerden, der ihr auf den Lippen lag, denn Nemeth lief unverzüglich los, und sie musste sich sputen, um sie nicht tatsächlich aus den Augen zu verlieren. Sie machte sich keine Sorgen um Nemeth. Das Mädchen konnte zweifellos ganz gut selbst auf sich aufpassen - Tatsache war, dass sie nicht wirklich auf den Weg geachtet und keine Ahnung hatte, wie sie wieder zurückkommen sollte.
Selbstverständlich strebte Nemeth zuallererst einen Stand an, dessen Besitzer allerlei Süßigkeiten und Naschwerk feilbot, und sie begann auch fast unverzüglich um ein Stück türkischen Honig zu feilschen. Robin ließ sie gewähren, aber sie fragte sich im Stillen, ob Nemeth sie nur zu dem kleinen Ausflug überredet hatte, um sich auf diese Weise mit Süßigkeiten einzudecken, die sie ohne erwachsene Begleitung nicht hätte kaufen können und deren Erwerb ihre Mutter niemals gestattet hätte.
Der Verdacht war so hässlich, dass sich Robins schlechtes Gewissen wieder meldete. Fast hastig drehte sie sich um und gewahrte gerade noch ein Aufblitzen von Weiß und Rot, das zu schnell aus ihren Augenwinkeln verschwand, als dass sie sicher sein konnte. Und doch ...
»Was habt Ihr, Herrin?«, fragte Nemeth alarmiert. Offensichtlich war ihr Robins Erschrecken nicht verborgen geblieben.
»Nichts«, murmelte Robin. »Ich muss ... mich getäuscht haben.«
Sie war nahezu sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Jemand beobachtete sie. Jetzt, im Nachhinein, wurde ihr klar, dass sie schon die ganze Zeit über das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden.
»Bleib hier«, sagte sie knapp. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten zum Anfang der Gasse zurück, wo sie erneut stehen blieb und sich aufmerksam umsah.
Nichts.
Wenn sie tatsächlich beobachtet wurden, dann war ihr Verfolger äußerst geschickt.
Aber wer sollte sie verfolgen? Niemand außer Salim und Bruder Abbé wusste, dass sie in der Stadt war. Und wenn es Salims Assassinen waren, die sie verfolgten, hätte sie sie nicht bemerkt.
Ganz davon abgesehen, dass sie bestimmt kein Templergewand getragen hätten ...
Sie ließ ihren Blick trotzdem noch einmal und sehr aufmerksam über die Straße schweifen, sah aber nichts Außergewöhnliches.
Vielleicht war sie einfach nur hysterisch.
»Was habt Ihr?«, fragte Nemeth noch einmal, als sie zu ihr zurückkehrte. Sie wirkte alarmiert.
»Nichts«, wiederholte Robin. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. Aber ich muss mich wohl getäuscht haben.« Sie wedelte mit der Hand und war plötzlich dankbar für den schwarzen Schleier vor dem Gesicht, der ihre wahren Gefühle verbarg.
»Mach weiter.«
»Oh, ich bin schon fertig«, antwortete Nemeth. »Ich wollte nichts kaufen.«
Der Händler hinter seinem Stand blickte finster, und Robin fragte: »Warum hast du dann um den Preis gefeilscht?«
»Weil es Spaß macht«, antwortete Nemeth.
Robin schüttelte seufzend den Kopf. Vielleicht, um ihr Gewissen wegen des unfairen Verdachtes, den sie gerade gehabt hatte, zu beruhigen, wiederholte sie ihre ungeduldig-wedelnde Handbewegung und sagte: »Nimm das Stück Honig. Ich kläre das mit deiner Mutter. Aber gib acht«, fügte sie mit einem finsteren Blick ins Gesicht des Händlers hinzu, »dass du nicht übers Ohr gehauen wirst.«