»Was erdreistest du dich, mich zu maßregeln, Weibsstück?«, fuhr der Dicke fort. »Weißt du nicht, mit wem du sprichst?«
Nein, dachte Robin, so wenig wie du. Laut, aber mit mühsam beherrschter Stimme, antwortete sie: »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Herr. Bitte verzeiht. Es ist meine Schuld. Ich wusste, wie wild das Mädchen ist und hätte besser aufpassen müssen.«
Im ersten Moment war sie fast sicher, dass diese Entschuldigung dem Dicken immer noch nicht reichen würde. Vielleicht war er einfach auf Streit aus. Dann aber machte die Wut in seinen Augen plötzlicher Verachtung Platz. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass es wenig Ehre einbrachte, auf eine wehrlose Frau loszugehen. »Pass in Zukunft besser auf dein Balg auf, dummes Weib«, sagte er verächtlich.
Robin atmete nicht nur innerlich auf, als er sich umdrehte, sondern beglückwünschte sich im Stillen auch zu ihrer eigenen Beherrschung. Wäre die Situation auch nur ein bisschen anders gewesen ...
Sie war anders.
Der Dicke hatte zwar von ihr abgelassen, doch als er an Nemeth vorbeiging, versetzte er ihr einen Tritt, der sie vor Schmerz aufschreien und sich krümmen ließ, und Robin war mit einem einzigen Schritt bei ihm und riss ihn an der Schulter zurück. Der Dicke schüttelte ihren Arm mit einem wütenden Knurren ab, fuhr herum und holte aus, um sie zu schlagen. Robin duckte sich ohne Mühe unter seinem Schlag weg, packte sein Handgelenk und benutzte die Kraft seiner eigenen Bewegung, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und von sich zu stoßen. Der Dicke stolperte mit hilflos rudernden Armen in einen Stand, der unter seinem Aufprall zerbrach und zusammen mit seinem Besitzer und ihm selbst zu Boden ging.
Der Dicke heulte auf und kam mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder auf die Beine. Robin wich rasch zwei oder drei Schritte zurück, duckte sich leicht und breitete die Arme aus. Ihre Schulter schmerzte, und ihre Gedanken überschlugen sich schier. Sie hatte alles verdorben! Wenn sie jemals eine Chance gehabt hatte, ohne allzu großes Aufsehen aus dieser Situation herauszukommen, dann hatte sie sie gerade selbst kaputtgemacht!
»Du verdammtes Weibsbild!«, keuchte der Dicke. »Das hast du nicht umsonst gemacht! Dafür zahlst du!« Er hatte sich beim Sturz die Nase aufgeschlagen und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um das Blut fortzuwischen, das herauslief. Trotzdem kam er näher. Seine Augen funkelten, und Robin wich einen weiteren halben Schritt zurück. Sie durfte diesen Mann nicht unterschätzen. Er war plump und schwerfällig und wahrscheinlich ebenso langsam wie ungeschickt, aber er war auch mindestens dreimal so schwer wie sie. Wenn er sie zu fassen bekam, war sie in Schwierigkeiten.
»Dafür bringe ich dich um!«, drohte der Dicke. Er meinte das ernst, begriff Robin.
Plötzlich war ihr alles egal. Was immer auch in den nächsten Augenblicken geschah, Salim würde so oder so davon erfahren, und er würde sofort wissen, wer die unscheinbare junge Frau gewesen war, die auf dem Basar eine Prügelei angefangen hatte.
»Ich nehme nicht an, dass es Sinn hat, an dein Ehrgefühl zu appellieren und dich zu fragen, ob du tatsächlich eine Frau schlagen willst«, fragte sie.
Sie bekam nicht einmal eine Antwort. Der Dicke grunzte nur, kam einen weiteren Schritt heran und hob in einer albernen Geste die Fäuste vor das Gesicht.
»Dann appelliere ich eben an deinen Verstand«, fuhr Robin fort. »Wenn du mich angreifst, töte ich dich.«
Für einen halben Atemzug zögerte der Dicke tatsächlich, und in die Mordlust in seinem Blick mischte sich Unsicherheit. Vielleicht begann er zu begreifen, dass diese Drohung durchaus ernst gemeint war. Dann aber brüllte er voller Wut auf und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf sie.
Robin machte einen halben Schritt zur Seite und tat so, als würde sie nach seinem Arm greifen, um ihn noch einmal auf die gleiche Weise wie gerade abzuwehren, und natürlich fiel der Dicke darauf herein. Er duckte sich mit selbst für Robin unerwarteter Geschicklichkeit, um ihrer zupackenden Hand auszuweichen, und versuchte gleichzeitig, ihr einen brutalen Faustschlag ins Gesicht zu versetzen. Robin musste nicht einmal viel tun. Der Fettsack sprang mehr in ihren Hieb hinein, als sie zuschlug, und Robin konnte ihren Stoß gerade noch im letzten Moment zurückhalten, um ihm die allergrößte Wucht zu nehmen. Sie wollte den Mann nicht töten.
Dennoch konnte Robin hören, wie mindestens zwei seiner Rippen brachen, als sie ihm die Faust in die Herzgrube hämmerte.
Die Augen des Dicken quollen ein gutes Stück weit aus den Höhlen. Einen winzigen und zugleich schier endlosen Moment lang stand er wie erstarrt da, dann torkelte er einen Schritt zurück, und sein Mund öffnete und schloss sich wie der eines Fisches auf dem Trockenen, während er ebenso vergeblich wie ein solcher nach Luft schnappte. Dann kippte er stocksteif nach hinten und zertrümmerte im Fallen noch einen weiteren Verkaufsstand. Es sah beinahe komisch aus.
Aber das war es nicht.
Ganz und gar nicht.
Plötzlich war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Es wurde still. Vollkommen still. Robin spürte, wie Dutzende von Augenpaaren sie anstarrten, und sie registrierte sogar, wie Nemeth hinter ihr aufsprang und hastig davonlief. Niemand hielt sie auf. Wenigstens etwas.
Das unheimliche Schweigen hielt noch eine weitere, schier endlose Sekunde an, dann schüttelte der erste Mann seine Lähmung ab, und die Bewegung war offensichtlich ein Zeichen für drei oder vier weitere, sich gemeinsam auf sie zu werfen.
Robin versuchte erst gar nicht, zu kämpfen. Die Übermacht war einfach zu groß. Und selbst, wenn sie mit vier Gegnern gleichzeitig fertig geworden wäre (was schlechterdings unmöglich war), wären sofort andere da gewesen. Der Schock, den es für diese Männer bedeuten musste, eine Frau auf diese Weise kämpfen zu sehen, würde nicht lange vorhalten. Als der erste Mann die Arme ausstreckte und sie zu packen versuchte, ließ sie sich einfach fallen, zog die Knie an den Leib und rollte blitzartig zwischen seinen Beinen hindurch. Ein riesiger Fuß stampfte nach ihrem Gesicht, und Robin revanchierte sich, indem sie hart nach oben austrat. Sie wurde mit einem schrillen Geheul belohnt, und dem Anblick eines dürren Kerls, der zwei komische Hüpfer machte und dann gurgelnd und die Hände in den Schoß gekrallt in die Knie brach.
Sofort waren zwei weitere Männer zur Stelle. Robin trat dem einen vor die Kniescheibe, was ihn prompt zu Boden schickte, doch der andere packte ihren Arm - ihren linken Arm! - und riss sie in die Höhe.
Robin kreischte vor Pein. Ihre verletzte Schulter fühlte sich an, als hätte man ihr den Arm aus dem Gelenk gerissen, und der Schmerz war so schlimm, dass ihr übel wurde. Alle Kraft wich aus ihrem Körper. Sie brach in die Knie, und der Mann, der sie gepackt hatte, riss sie erneut am linken Arm in die Höhe, und diesmal war der Schmerz so unbeschreiblich, dass ihr schwarz vor Augen wurde.
Als sich die Schleier vor ihren Augen wieder lichteten, hielten sie zwei kräftige Männer an den ausgebreiteten Armen gepackt, und ein dritter stand vor ihr und war gerade dabei, ihr den Schleier vom Gesicht zu reißen.
»Wer bist du, Weib?«, fuhr er sie an. Robin hatte Mühe, sein Gesicht zu erkennen, und nicht nur sein Gesicht. Alles verschwamm vor ihren Augen.
»Wer bist du, Weib, dass du kämpfst wie ein Mann?«, wiederholte er seine Frage. »Bist du überhaupt ein Weib?« Eine harte Hand grapschte nach ihrer linken Brust und drückte so fest zu, dass Robin vor Schmerz aufstöhnte.
»Ja, du bist ein Weib«, sagte er. »Aber wie kann das sein? Du kämpfst härter als jeder Mann, den ich kenne, und ...«
Der Rest seiner Frage ging in einem qualvollen Stöhnen unter, als Robin ihm die Stirn ins Gesicht rammte und ihm die Nase brach. Der Mann stolperte zurück und schlug die Hand vor das Gesicht. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.