Er sah einige Aes Sedai, als er aus der Burg hinausmarschierte, und ein paar davon bemerkten ihn ebenfalls, doch sie hoben höchstens erstaunt eine Augenbraue, sprachen ihn aber nicht an. Eine davon war Anaiya. Sie lächelte ihn amüsiert an und schüttelte leicht mißbilligend den Kopf. Er antwortete mit einem Achselzucken und dem schuldbewußtesten Grinsen, das er fertigbrachte. Sie ging schweigend weiter und schüttelte dabei noch mal den Kopf. Die Wachen am Eingang der Burg blickten ihm lediglich nach.
Erst als er den großen Vorplatz überquert hatte und durch die Straßen der Stadt schlenderte, kam in ihm ein Gefühl der Erleichterung auf. Und des Triumphs. Wenn du nicht verbergen kannst, was du vorhast, dann übertreibe so, daß dich die anderen für einen Narren halten. Dann stehen sie lediglich herum und warten darauf, daß du auf die Schnauze fällst. Diese Aes Sedai warten bestimmt darauf, daß ich von den Wachen zurückgebracht werde. Wenn ich am Morgen noch nicht zurück bin, werden sie zu suchen beginnen. Zuerst aber nicht so schrecklich eifrig, weil sie glauben, ich sei irgendwo in der Stadt untergetaucht. Wenn es ihnen schließlich klar wird, was ich getan habe, bin ich schon weit genug flußabwärts. Dieses Kaninchen wird einen großen Vorsprung vor den Jagdhunden gewinnen.
Sein Herz war so leicht wie seit Jahren nicht mehr. Jedenfalls schien es ihm so. Er begann, vor sich hin zu summen: ›Wir sind wieder auf der Walz‹, und richtete seine Schritte auf den Hafen, von wo aus Schiffe nach Tear hinuntersegeln würden. Sie liefen natürlich all die vielen Dörfer und Städte dazwischen ebenfalls an. Er würde sicher nicht bis Tear fahren. Aringill, wo er sich für den Rest seiner Reise an Land begeben würde, lag ungefähr auf halbem Weg flußabwärts.
Ich überbringe deinen verdammten Brief. Die hat vielleicht Nerven! Erst glaubt sie, ich werde ihn ganz selbstverständlich hinbringen. Dann wieder nicht. Also, ich bringe das verdammte Ding nach Caemlyn, und wenn es mich umbringt.
Die Dämmerung breitete sich über Tar Valon aus. Der Abendsonnenschein reichte aber gerade noch aus, um die phantastischen Gebäude und die seltsam geformten Türme bewundern zu können. Die Türme waren mehr als hundert Schritt hoch oben durch Brücken miteinander verbunden. Menschen füllten die Straßen. Sie trugen so viele verschiedene Moderichtungen, daß Mat glaubte, es müsse so ziemlich jede Nation hier vertreten sein. An den großen Alleen arbeiteten die Laternenanzünder paarweise. Sie stellten ihre Leitern an die hohen Laternenpfähle und einer kletterte hinauf, um den Docht zu erneuern und anzuzünden. Doch in dem Teil Tar Valons, in den er ging, kam das einzige Licht aus den Fenstern der Häuser.
Die großen Gebäude und Türme Tar Valons waren noch von Ogiern erbaut worden, aber die neueren Viertel stammten von Menschenhand. ›Neuer‹ hieß in manchen Fällen ›erst‹ zweitausend Jahre alt. Drunten in der Nähe des Südhafens hatten die menschlichen Baumeister versucht, die kunstvollen Ogierbauwerke zu kopieren. Schenken, in denen sich die Matrosen herumtrieben, erinnerten schon eher an Paläste. In den Nischen standen kleine Statuen, und auf den Dächern wölbten sich niedrige Kuppeln. Zierleisten und kunstvolle Friese schmückten die Wände der Läden von Kerzengießern und der Häuser von Kaufleuten. Auch hier spannten sich Brücken über die Straßen, doch die waren nur gepflastert und nicht mit den mächtigen Steinplatten ausgelegt, und viele der Brücken waren lediglich aus Holz gebaut und verbanden die zweiten Stockwerke der Häuser miteinander oder höchstens einmal die vierten.
Die unbeleuchteten Straßen waren mindestens genauso belebt wie die übrigen in Tar Valon. Händler von den Schiffen und andere, die ihre mitgebrachten Waren kauften, Menschen, die den Erinin als Reiseweg benutzten, und Menschen, die von ihm lebten — alle füllten sie die Tavernen und die Schankräume der Wirtshäuser. In ihrer Gesellschaft befanden sich auch solche, die hinter ihrem Geld her waren, entweder mit legalen Methoden oder etwas zwielichtigeren. Laute Musik von Zithern und Flöten, Harfen und Hackbrettern erklang durch die Straßen. In der ersten Schenke, die Mat betrat, waren an drei Tischen Spiele im Gang. Männer hockten im Kreis in der Nähe der Wände und schrien und lachten, gewannen und verloren.
Er wollte nur vielleicht eine Stunde mit Spielen verbringen und sich dann ein Schiff suchen, gerade lange genug, um seinem kleinen Vermögen ein paar Münzen hinzuzufügen, aber dann gewann er. Er hatte schon immer häufiger gewonnen als verloren, solange er sich zurückerinnern konnte. Es hatte bei seinen Spielen mit Hurin und in Schienar Glückssträhnen gegeben, wo er sechs- oder achtmal hintereinander gewonnen hatte. Heute abend jedoch gewann er mit jedem Wurf. Mit jedem!
Einige der Männer, mit denen er spielte, blickten ihn so böse an, daß er froh war, nicht seine eigenen Würfel benützt zu haben. Deshalb entschloß er sich auch, weiterzugehen. Überrascht stellte er fest, daß er nun beinahe dreißig Silbermark in der Börse hatte, aber er hatte zum Glück keinem einzelnen Mann soviel abgewonnen. Trotzdem waren sie froh, als er wieder ging.
Nur ein dunkelhäutiger Seemann mit einem Lockenkopf — einer aus dem Meervolk, hatte man ihm gesagt, auch wenn sich Mat fragte, was einer der Atha'an Miere so weit vom Meer weg wollte — folgte ihm durch die düsteren Straßen und wollte unbedingt eine Gelegenheit, seinen Verlust wieder einzuspielen. An sich wollte er jetzt zum Hafen, denn dreißig Silbermark waren mehr als genug, aber der Seemann bequatschte ihn weiter, und er hatte auch nur eine halbe Stunde gebraucht, also gab er nach und betrat an der Seite des Mannes die nächste Taverne, an der sie vorbeikamen.
Er gewann wieder, und das Spielfieber ergriff ihn. Er gewann mit jedem Wurf. So ging er von einer Taverne zur nächsten, blieb aber niemals lange genug, um die Leute durch die Höhe seiner Gewinne zu verärgern. Und immer weiter gewann er mit jedem Wurf. Bei einem Geldwechsler tauschte er das Silber gegen Gold ein. Er spielte mit Kronen, Fünfern und beim Jungferntod. Er spielte mit fünf Würfeln, mit vier, mit drei und sogar nur mit zweien. Er spielte Spiele, die er noch gar nicht gekannt hatte, bevor er sich dort hinhockte oder einen Platz am Tisch einnahm. Und er gewann. Irgendwann in der Nacht torkelte der dunkle Seemann, der seinen Namen mit Raab angegeben hatte, müde, aber mit voller Geldbörse in die Dunkelheit hinaus. Er hatte auf Mat gewettet und kräftig gewonnen. Mat besuchte wieder einen Geldwechsler, vielleicht auch zwei. Das Spielfieber ließ ihm alles genauso verschwommen erscheinen wie seine Vergangenheit. Weiter ging's zum nächsten Spiel und zum nächsten Gewinn.
Er wußte nicht, wie viele Stunden schon vergangen waren, als er sich schließlich in einer Taverne wiederfand, die mit Tabaksrauch gefüllt war. Er glaubte, den Namen als ›Das Tremalkiner Tau‹ identifiziert zu haben. Er blickte auf fünf Würfel herab, von denen jeder eine tief eingravierte Krone zeigte. Die meisten Gäste hier schienen nur Interesse daran zu haben, soviel wie möglich zu trinken, aber in der entfernten Ecke klapperten ebenfalls Würfel und erschollen die Schreie der Spieler. All die Geräusche jedoch wurden von einer Frau übertönt, die — von einer Zither begleitet — eine fröhliche Tanzmelodie sang.
»Ich tanz mit einem Mädel mit dunklem Aug, ich bin auch blauen Augen gern nah, die Farbe der Augen ist mir ganz gleich, doch deine sind die schönsten, die ich je sah! Ich küß gern ein Mädchen mit schwarzem Haar, eine Blonde macht das Herz mir auch warm, egal welche Farbe die Haare haben, am liebsten halt ich doch dich im Arm.«