Die Sängerin hatte das Lied angekündigt unter dem Titeclass="underline" ›Was er mir sagte‹, doch Mat kannte es als ›Tanzt du mit mir?‹ mit einem anderen Text. Aber er konnte jetzt nur an die Würfel denken.
»Wieder ein König«, knurrte einer der Männer, die neben Mat hockten. Es war nun das fünfte Mal hintereinander, daß Mat einen König gewürfelt hatte.
Er hatte den Einsatz von einer Goldmark gewonnen. Diesmal kümmerte es ihn nicht einmal, daß seine andorische Mark mehr wog als die aus Illian, die sein Gegner dagegengesetzt hatte. Er schob die Würfel in den Lederbecher, schüttelte ihn stark und ließ die Würfel erneut über den Fußboden rollen. Fünf Kronen. Licht, das kann doch nicht wahr sein! Keiner hat je sechsmal nacheinander einen König geworfen. Keiner!
»Des Dunklen Königs eigenes Glück«, grollte ein anderer Mann. Das war ein breit gebauter Bursche. Das dunkle Haar hatte er im Nacken mit einem schwarzen Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Schultern waren breit, auf dem Gesicht hatte er Narben, und die Nase war wohl mehr als einmal gebrochen worden.
Mat war sich seiner eigenen Bewegungen kaum bewußt, da hatte er diesen Mann schon am Kragen gepackt, auf die Beine gezerrt und gegen die Wand geknallt. »Sag das nicht noch einmal!« fauchte er ihn an. »Sag so was nie wieder!« Der Mann blinzelte völlig verblüfft. Er war einen Kopf größer als Mat.
»Ist doch nur 'ne Redensart«, sagte jemand hinter ihm. »Licht, das sagt man doch bloß so.«
Mat ließ den narbengesichtigen Mann los und trat zurück. »Ich... ich... ich mag es nicht, wenn jemand so was über mich sagt. Ich bin doch kein Schattenfreund!« Seng mich, nicht das Glück des Dunklen Königs. Das nicht! O Licht, was hat denn dieser verfluchte Dolch bloß aus mir gemacht?
»Keiner hat das behauptet«, knurrte der Mann mit der krummen Nase. Er schien langsam seine Überraschung zu überwinden und zu überlegen, ob er wütend werden sollte oder nicht.
Mat schnappte sich seine Bündel, die er hinter sich auf den Boden gelegt hatte, und ging aus der Taverne hinaus. Er ließ die Münzen liegen. Er hatte keine Angst vor dem Mann. Im Gegenteil, er hatte sowohl Mann wie auch Münzen einfach vergessen. Alles, was er wollte, waren frische Luft und Zeit zum Nachdenken.
Auf der Straße lehnte er sich an eine Wand unweit der Tür der Taverne und atmete die kühle Luft tief ein. Jetzt waren die dunklen Straßen des Südhafenviertels beinahe leer. Aus den Schenken und Tavernen drangen noch immer Musik und Gelächter, aber nur wenige Menschen schritten durch die Nacht. Er hielt den Bauernspieß senkrecht in beiden Händen vor sich, senkte den Kopf auf die Fäuste und versuchte, das Rätsel von allen Seiten her zu sehen.
Er wußte, daß er sich auf sein Glück verlassen konnte. Er hatte schon immer Glück gehabt. Aber irgendwie konnte er sich nicht daran erinnern, zu Hause in Emondsfeld bereits soviel Glück gehabt zu haben, wie seit seiner Abreise. Sicher, er war sehr oft unentdeckt davongekommen, aber andererseits hatte man ihn auch bei so manchem Streich erwischt, den er für todsicher gehalten hatte. Seine Mutter schien immer geahnt zu haben, was er vorhatte, und Nynaeve durchschaute alle Entschuldigungen, die er sich ausdachte. Aber die Glückssträhne hatte nicht damals begonnen, als sie von den Zwei Flüssen wegritten. Nein, es hatte begonnen, als er den Dolch in Shadar Logoth fand. Er erinnerte sich, wie er daheim einmal gewürfelt hatte. Sein Gegner war ein knochiger Mann mit scharfem Blick gewesen, der für einen Tabakhändler aus Baerlon arbeitete. Und er erinnerte sich noch besser, wie ihn sein Vater damals verprügelt hatte, als er erfuhr, daß Mat dem Mann eine Silbermark und vier Pfennig schuldete.
»Aber ich habe den verfluchten Dolch doch endlich los«, murmelte er. »Diese verdammten Aes Sedai haben gesagt, ich sei ihn endgültig los.« Er fragte sich, wieviel er wohl an diesem Abend gewonnen habe.
Als er mit den Händen in seine Manteltaschen faßte, fand er sie angefüllt mit einzelnen Münzen, Kronen und Mark, mit Silber und Gold, das glitzerte und im Lichtschein der nahen Fenster schimmerte. Es schien, daß er jetzt zwei Geldbörsen besaß, und beide waren prall voll. Er band sie auf und fand weitere Goldmünzen. Und noch mehr hatte er in seine Gürteltasche gestopft zwischen und über und neben seine Würfelbecher. Elaynes Brief und das Dokument der Amyrlin waren zerknittert. E r erinnerte sich dunkel daran, einigen Dienerinnen Silbermünzen hingeworfen zu haben, weil sie so nett lächelten oder hübsche Augen oder schöne Beine gehabt hatten und weil Silberpfennige einfach nicht wert waren, daß er sie behielt.
Das Behalten nicht wert? Na ja, vielleicht. Licht, ich bin reich! Ich bin verflucht reich! Vielleicht liegt es an den Aes Sedai und was sie mit mir gemacht haben? Irgendwas bei der Heilbehandlung? Möglicherweise nur ein Zufall. Das könnte sein. Besser das, als die andere Möglichkeit. Das müssen diese verdammten Aes Sedai fertiggebracht haben.
Ein großer Mann kam aus der Taverne heraus. Die Tür schloß sich, bevor er in dem von innen herausdringenden Licht das Gesicht erkennen konnte. Mat drückte sich an die Wand, stopfte die Börsen zurück in seinen Mantel und packte seinen Bauernspieß fester. Wo auch immer sein Glück heute abend herrühren mochte — er wollte nicht riskieren, all sein Gold wieder an einen Räuber zu verlieren.
Der Mann wandte sich ihm zu, starrte ihn mit vorgeschobenem Kopf an und fuhr ein wenig zusammen. »K-kalte Nacht«, stotterte er angetrunken. Er torkelte näher und Mat sah, daß er vor allem fett war. »Ich muß... ich muß... « Der fette Mann ging stolpernd an ihm vorbei die Straße hinauf und führte dabei unzusammenhängende Selbstgespräche.
»Narr!« brummte Mat, aber nicht einmal er war sicher, ob er damit den fetten Mann oder sich selbst meinte. »Zeit, ein Schiff zu finden, das mich hier wegbringt.« Er blinzelte in den schwarzen Himmel und versuchte, zu schätzen, wie lange es noch bis zur Morgendämmerung brauchen würde. Zwei, vielleicht auch drei Stunden, dachte er. »Höchste Zeit.« Sein Magen knurrte. Er konnte sich dunkel daran erinnern, in einer der Schenken gegessen zu haben, aber was, das wußte er nicht mehr. Da hatte ihn noch das Spielfieber in den Klauen gehabt. Er schob eine Hand in die Ledertasche, fand aber nur ein paar Krumen. »Wirklich höchste Zeit. Sonst kommt eine von ihnen an, nimmt mich in die Finger und schiebt mich in ihre Tasche.« Er schubste sich von der Wand weg und ging los in Richtung Hafen, wo er sicher ein Schiff finden konnte.
Zuerst glaubte er, die schwachen Geräusche hinter ihm rührten vom Echo seiner eigenen Stiefelschritte auf den Pflastersteinen her. Dann wurde ihm klar, daß ihm jemand folgte. Und sich bemühte, leise aufzutreten. Na ja, jetzt ist es bestimmt ein Straßenräuber.
Er hob den Bauernspieß und überlegte kurz, ob er sich umdrehen und sich ihm stellen solle. Aber es war dunkel, und auf dem Pflaster rutschte man leicht aus. Außerdem hatte er keine Ahnung, ob es nur einer war oder mehrere. Nur, weil du dich gegen Gawyn und Galad so gut geschlagen hast, bist du noch kein verdammter Held aus irgendeiner Geschichte.
Er ging eine noch engere und gewundene Seitenstraße hinunter. Er bemühte sich, auf Zehenspitzen zu laufen und auch noch schnell dazu. Hier waren alle Fenster dunkel und die meisten mit Läden verschlossen. Er näherte sich schon dem Ende der Straße, da sah er zwei Männer, die an der nächsten Ecke in eine Seitenstraße hineinspähten. Und hinter sich hörte er langsame Schritte, das leichte Schaben von Stiefelsohlen auf dem Kopfsteinpflaster.
Augenblicklich drückte er sich in eine dunkle Ecke, wo ein Gebäude etwas hervorstand. Das schien im Moment das Beste zu sein. Er packte den Bauernspieß und wartete ab.