»Ich... ich glaubte, Lan sei hier«, brachte er mühsam heraus. »Ihr steckt sonst immer die Köpfe zusammen, und deshalb dachte ich, er... Ich dachte... «
»Was wollt Ihr, Perrin?«
Er atmete tief durch. »Ist das Rands Werk? Ich weiß, daß ihm Lan hierher gefolgt ist, und all das wirkt so eigenartig — die Jäger, der Aiel —, aber ist er dafür verantwortlich?«
»Ich glaube nicht. Ich weiß mehr, wenn Lan mir berichtet, was er heute nacht herausbekommt. Mit Glück kann mir das dabei helfen, eine Entscheidung zu treffen, die ich nun treffen muß.«
»Eine Entscheidung?«
»Rand könnte einerseits den Fluß überquert und sich zu Fuß auf den Weg nach Tear gemacht haben, und andererseits könnte er sich auf einem Schiff flußabwärts nach Illian befinden, um von dort aus auf einem anderen Schiff Tear zu erreichen. Die Reise ist so wohl um vieles weiter, aber dafür um Tage kürzer.«
»Ich glaube nicht, daß wir ihn einholen, Moiraine. Ich weiß nicht, wie er es anstellt, aber selbst zu Fuß bleibt er immer vor uns. Wenn Lan recht hat, beträgt sein Vorsprung noch einen halben Tag.«
»Man könnte beinahe den Verdacht hegen, er habe gelernt, mit Hilfe der Macht zu reisen«, sagte Moiraine mit leichtem Stirnrunzeln, »aber dann wäre er sicherlich direkt nach Tear gegangen. Nein, er trägt einfach das Erbe von Wanderern und ausdauernden Läufern in sich. Aber vielleicht nehmen wir doch den Wasserweg. Wenn ich ihn nicht einholen kann, werde ich zumindest kurz nach ihm im Tear ankommen. Oder dort auf ihn warten.«
Perrin verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. In ihrer Stimme lag so etwas wie ein eiskaltes Versprechen. »Ihr habt mir einmal gesagt, Ihr könntet einen Schattenfreund riechen, oder zumindest einen, der bereits ganz dem Schatten angehört. Lan kann das auch. Habt Ihr so etwas hier gewittert?«
Sie schniefte laut und wandte sich dem hohen Standspiegel zu. Seine Halterungen waren mit fein gewirktem Silber eingelegt. Mit einer Hand hielt sie ihre Robe zusammen, mit der anderen bürstete sie ihr Haar. »Nur wenige Menschen sind in solchem Maße verloren, Perrin, selbst unter den schlimmsten Schattenfreunden.« Sie hielt im Bürsten inne. »Warum fragt Ihr?«
»Da war so ein Mädchen unten im Schankraum, das mich angestarrt hat. Nicht Euch oder Loial, wie die anderen. Nein, mich.«
Die Bürste fuhr wieder durch ihr Haar, und Moiraine lächelte ganz kurz. »Manchmal vergeßt Ihr, Perrin, daß Ihr ein gutaussehender junger Mann seid. Manche Mädchen bewundern solche Schultern wie Eure.« Er grunzte und trat von einem Fuß auf den anderen. »Gab es noch etwas, Perrin?«
»Ach... nein.« Sie konnte ihm in bezug auf das, was Min vorhergesehen hatte, nicht weiterhelfen. Sie hätte ihm doch nur das sagen können, von dem er bereits wußte, daß es wichtig sei. Und er wollte ihr auch gar nicht anvertrauen, was Min gesagt hatte. Oder, was das betraf, daß Min überhaupt etwas gesehen hatte.
Draußen auf dem Flur lehnte er sich einen Moment lang an die Wand, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Licht, einfach so bei ihr hineinspazieren, und sie... Sie war eine gutaussehende Frau. Und wahrscheinlich alt genug, um meine Mutter zu sein oder noch mehr. Er glaubte, Mat an seiner Stelle hätte sie jetzt hinunter in den Schankraum gebeten, um mit ihr zu tanzen. Nein, wohl doch nicht. Selbst Mat ist nicht so dumm, mit einer Aes Sedai flirten zu wollen. Moiraine tanzte durchaus. Er hatte sogar selbst schon einmal mit ihr getanzt. Und dabei wäre er beinahe über die eigenen Füße gestolpert vor Aufregung. Denk nicht immer so an sie, als sei sie ein Mädchen vom Dorf, nur weil du sie so gesehen... Sie ist eine verdammte Aes Sedai! Du solltest dir besser über diesen Aiel Gedanken machen. Er schüttelte sich und ging hinunter.
Der Schankraum war vollgestopft mit Menschen. Jeder Stuhl war besetzt, und man hatte weitere Stühle und Bänke hereingetragen. Trotzdem hatten einige keinen Platz gefunden und standen an der Wand. Er sah das schwarzhaarige Mädchen nicht, und sonst warf ihm keiner einen zweiten Blick zu, als er sich durch den Raum zwängte.
Orban saß allein an einem Tisch, hatte sein bandagiertes Bein auf ein Kissen auf einem Stuhl hochgelegt — an diesem Fuß trug er einen Hausschuh — und hielt einen silbernen Pokal in der Hand, den eine Dienerin immer wieder mit Wein füllte. »Ja«, sagte er zu allen im Raum, »wir wußten, daß die Aiel wilde Kämpfernaturen sind, Gann und ich, aber wir hatten überhaupt keine Zeit, um es uns zu überlegen. Ich zog mein Schwert und gab Löwe meine Fersen zu spüren... «
Perrin fuhr auf, aber dann wurde ihm klar, daß der Mann sein Pferd mit diesem Namen meinte. Sähe ihm ähnlich, wenn er behauptete, auf einem Löwen geritten zu sein. Er schämte sich ein wenig. Nur weil er den Mann nicht leiden konnte, mußte er doch nicht gleich annehmen, daß der seine Angebereien so weit trieb. Er eilte hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Straße vor der Schenke war genauso voll wie der Schankraum. Menschen, die drinnen keinen Platz gefunden hatten, drängten sich vor den Fenstern, um einen Blick hineinzuwerfen, und doppelt so viele standen direkt vor der Tür, um wenigstens Orbans Erzählung lauschen zu können. Keiner warf Perrin einen zweiten Blick zu, obwohl er einige dazu brachte, sich zu beklagen, als er sich durch die Menge hindurchzwängte.
Jeder, der an diesem Abend auf den Beinen war, mußte sich bei der Schenke befinden, denn er sah nicht einen einzigen, als er zum Marktplatz ging. Manchmal huschte der Schatten eines Menschen über ein beleuchtetes Fenster, aber das war alles. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er blickte sich ständig nervös um: nichts als in die Nacht gehüllte Straßen und erleuchtete Fenster. Um den Marktplatz herum waren die meisten Fenster bis auf ein paar in den oberen Stockwerken unbeleuchtet.
Der Galgen stand genauso da, wie er ihn in Erinnerung hatte, und der Mann — der Aiel — hing etwas oberhalb seiner Reichweite. Der Aiel schien wach zu sein. Zumindest hatte er den Kopf gehoben. Aber er blickte nicht zu Perrin herunter. Unter dem Käfig lagen die Steine, die von den Kindern auf ihn geschleudert worden waren.
Der Käfig hing an einem dicken Seil, das ganz oben durch einen Ring gezogen war. Es lief am Balkenkreuz über eine schwere Seilrolle und war dann ganz unten rechts und links von dem Galgen jeweils an einer hüfthoch angebrachten Querstrebe befestigt. Der Rest des Seils lag in achtlos hingeworfenen Schleifen am Boden neben dem Gestell.
Perrin sah sich wieder um und suchte den dunklen Platz ab. Er hatte immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden, entdeckte aber nach wie vor nichts. Er lauschte und hörte ebenfalls nichts. Er roch den Rauch aus den Schornsteinen und das Essen in den Häusern und Menschenschweiß und getrocknetes Blut an dem Mann im Käfig. Es ging aber kein Geruch nach Angst von ihm aus.
Sein Gewicht und das Gewicht des Käfigs, dachte er, und er näherte sich dem Galgen. Es war ihm selbst nicht klar, wann er sich dazu entschlossen hatte oder ob er sich überhaupt dazu entschlossen hatte, aber er wußte, daß er es tun würde.
Er hakte sich mit einem Bein am Galgen ein und zog an dem Seil, worauf der Käfig ein wenig nach oben ruckte. Dadurch hatte er ein Stückchen schlaffes Seil in der Hand. Allerdings ruckte jetzt das Seil, und damit wußte er, daß sich der Mann im Käfig endlich bewegt hatte. Doch er hatte es zu eilig, um jetzt zu unterbrechen und ihm zu sagen, was er plante. Durch den gewonnenen Spielraum war er jetzt in der Lage, das Seil von einer der Querstreben abzuwickeln. Er hielt sich immer noch mit seinem Bein am Balken fest und senkte nun den Käfig Hand über Hand bis auf die Pflastersteine.