Sie schien sein Schweigen als Aufforderung zum Weitersprechen zu betrachten. »Also, da habe ich nun eine... « — sie sah sich um und senkte die Stimme, obwohl das nächste Besatzungsmitglied mindestens zehn Fuß entfernt an seinem Ruder pullte —, »eine Aes Sedai, einen Behüter, einen Ogier — und dich. Auf den ersten Blick ein Landmann.« Ihre schrägstehenden Augen blickten aufmerksam in seine. Er hielt ihrem Blick stand, und sie lächelte. »Nur, daß du einen Aiel-Mann aus seinem Käfig befreist, dich lange mit ihm unterhältst und ihm dann hilfst, ein Dutzend Weißmäntel zu Wurst zu verarbeiten. Ich nehme an, das tust du öfters. Es schien, als sei es nichts Besonderes für dich. Ich wittere etwas Seltsames bei einer Reisegruppe wie der euren, na ja, und wir Jäger halten eben nach seltsamen Spuren Ausschau.«
Er zwinkerte — die Betonung war unmißverständlich. »Ein Jäger? Du? Du kannst doch kein Jäger sein! Du bist doch ein Mädchen!«
Ihr Lächeln war so unschuldig, daß er beinahe fortgelaufen wäre. Sie trat zurück, machte mit jeder Hand eine ausschweifende Bewegung und hielt plötzlich zwei Messer darin. Selbst Thom Merrilin hätte es nicht geschickter machen können. Einer der Männer am Ruder gab einen erstickten Laut von sich, und zwei andere kamen ins Stolpern. Ihre Ruder krachten gegeneinander, und die ganze Seite war ein einziges Durcheinander. Die Schneegans lief schwankend aus dem Kurs, bis der Kapitän die Lage mit ein paar kräftigen Flüchen wieder entspannte. Zu der Zeit hatte das schwarzhaarige Mädchen die Messer allerdings auch wieder verschwinden lassen.
»Geschickte Finger und ein cleverer Verstand bringen dich ein gutes Stück weiter als ein Schwert und Muskeln. Scharfe Augen sind auch hilfreich, und glücklicherweise verfüge ich über das alles.«
»Und auch über Bescheidenheit«, knurrte Perrin. Sie nahm keine Notiz davon.
»Ich habe den Eid auf dem Großen Platz in Tammaz in Illian abgelegt und den Segen erhalten. Vielleicht war ich tatsächlich die jüngste, aber in dieser Menge und bei all dem Lärm von Trompeten und Trommeln und Becken und dem Geschrei... Ein Sechsjähriger hätte da genauso den Eid ablegen können, und keiner hätte es bemerkt. Wir waren mehr als tausend, vielleicht sogar zweitausend, und jeder hatte irgendeine Vorstellung davon, wo das Horn von Valere zu finden sei. Ich habe auch eine — es könnte auch stimmen —, aber kein Jäger kann sich leisten, eine so eigenartige Spur außer acht zu lassen. Das Horn liegt bestimmt am Ende einer solchen Spur, na ja, und ich habe noch nichts Eigenartigeres gesehen als euch vier. Wo wollt ihr hin? Illian? Woanders?«
»Was hast du dir vorgestellt?« fragte er. »Wo das Horn sein soll?« In Sicherheit in Tar Valon, hoffe ich, und das Licht gebe, daß ich es nie wieder sehe. »Glaubst du, es sei in Ghealdan?«
Sie runzelte die Stirn. Er hatte das Gefühl, sie würde eine Witterung vermutlich nicht mehr aufgeben, wenn sie sie schon aufgespürt hatte, aber er war bereit, sie mit so vielen Ablenkungsmanövern zu verwirren, wie es nur möglich war. Dann sagte sie: »Hast du jemals von Manetheren gehört?«
Er erstickte beinahe. »Ich habe davon gehört«, sagte er vorsichtig.
»Jede Königin von Manetheren war eine Aes Sedai, und der König war ihr zugeschworener Behüter. Ich kann mir so etwas gar nicht vorstellen, aber so steht es in den Büchern geschrieben. Es war ein großes Land, umfaßte wohl ganz Andor und Ghealdan und noch mehr, aber die Hauptstadt, ich meine die Stadt selbst, lag in den Verschleierten Bergen. Und ich glaube, dort ist das Horn. Außer, ihr führt mich zu ihm hin.«
Seine Nackenhaare sträubten sich. Sie hielt ihm einen Vortrag, als sei er ein ungebildeter Dorflümmel. »Du wirst weder das Horn noch Manetheren finden. Die Stadt wurde während der Trolloc-Kriege zerstört, als die letzte Königin zuviel der Macht lenken wollte, um die Schattenlords zu vernichten, die ihren Mann getötet hatten.« Moiraine hatte ihm die Namen dieses Königspaares genannt, aber er erinnerte sich nicht mehr an sie.
»Nicht in Manetheren, Bauernjunge«, sagte sie ruhig, »obwohl es in einem solchen Land sicher gut versteckt wäre. Aber es gab andere Staaten, andere Städte in den Verschleierten Bergen, doch das ist so lange her, daß sich selbst die Aes Sedai nicht mehr daran erinnern. Und denk mal an all die Geschichten, daß es Unglück bringe, den Bereich der Verschleierten Berge zu betreten. Welcher Ort wäre besser als Versteck für das Horn geeignet als eine dieser vergessenen Städte?«
»Ich habe davon gehört, daß etwas in den Bergen versteckt sein soll.« Würde sie ihm das abnehmen? Er war noch nie ein guter Lügner gewesen. »In diesen Geschichten wird nie gesagt, was es sei, aber man nimmt an, es sei der größte Schatz auf der Welt. Vielleicht ist es das Horn? Aber die Verschleierten Berge erstrecken sich über Hunderte von Meilen. Wenn du es finden willst, solltest du deine Zeit nicht damit verschwenden, uns zu folgen. Du mußt das Horn vor Orban und Gann finden.«
»Ich habe dir doch gesagt, die beiden haben die spinnige Idee, das Horn sei im Großen Schwarzwald versteckt.« Sie lächelte zu ihm auf. Wenn sie lächelte, war ihr Mund keineswegs mehr zu groß. »Und ich sagte dir, daß ein Jäger den seltsamsten Spuren folgen muß. Du hast Glück, daß Orban und Gann beim Kampf gegen all diese Aiel-Männer verwundet wurden, sonst wären sie vielleicht jetzt auch an Bord. Zumindest werde ich euch nicht im Weg stehen oder versuchen, euch herumzukommandieren oder gar den Behüter zum Kampf aufstacheln.«
Er grollte angewidert. »Wir sind nur Reisende auf dem Weg nach Illian, Mädchen. Wie heißt du eigentlich? Wenn ich tagelang dieses Schiff mit dir teilen muß, kann ich dich nicht immer nur ›Mädchen‹ nennen.«
»Ich nenne mich Mandarb.« Er konnte sich nicht helfen und lachte schallend los. Ein erhitzter Blick aus schrägstehenden Augen traf ihn. »Ich werde dich lehren, mich auszulachen, Bauernjunge.« Ihre Stimme blieb ruhig. Gerade so eben. »In der Alten Sprache heißt Mandarb soviel wie ›Klinge‹. Das ist ein Name, der eines Jägers nach dem Horn würdig ist!«
Er beherrschte sich mühsam, als er auf den Seilpferch zwischen den Masten deutete. »Siehst du diesen schwarzen Hengst? Er heißt Mandarb.«
Der Zorn verschwand aus ihrem Blick und ihre Wangen bekamen rote Flecke. »Oh. Ich wurde bei meiner Geburt Zarine Bashere genannt, aber Zarine ist kein Name für einen Jäger. In den Legenden haben die Jäger Namen wie Rogosh Adlerauge.«
Sie wirkte aber so zerknirscht, daß er schnell sagte: »Mir gefällt der Name Zarine. Er paßt zu dir.« Sofort kehrte hitziger Zorn in ihren Blick zurück und einen Moment lang glaubte er, sie werde gleich eines ihrer Messer ziehen. »Es ist spät, Zarine. Ich will schlafen.«
Er wandte sich um und ging hinüber zur Luke, die zu den Räumen unter Deck führte. Zwischen seinen Schulterblättern prickelte es. Besatzungsmitglieder trabten immer noch deckauf und deckab, um die Ruder zu bedienen. Narr. Ein Mädchen würde mich doch nicht mit einem Messer angreifen. Nicht, wenn all diese Leute zuschauen. Oder doch? Gerade in dem Moment, als er die Luke erreichte, rief sie ihm etwas zu: »Bauernjunge! Vielleicht nenne ich mich Faile. So hat mich mein Vater genannt, als ich klein war. Das heißt: Falke.«
Er verkrampfte und verfehlte beinahe die oberste Strebe der Leiter. Zufall. Er zwang sich dazu, hinunterzusteigen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Es muß einer sein. Der Gang unten war unbeleuchtet, aber der Mond hinter ihm schien hell genug, daß er seinen Weg fand, ohne zu stolpern. In einer der Kabinen schnarchte jemand laut. Min, warum mußt du nur solche Dinge vorhersehen?
36
Tochter der Nacht
Da er keine Ahnung hatte, welche Kabine für ihn vorgesehen war, steckte er den Kopf einfach in mehrere. Sie waren unbeleuchtet, und es schliefen jeweils zwei Männer in den engen Kojen. Nur in einer befand sich lediglich Loial, der auf dem Boden zwischen den Kojen saß — er paßte gerade so eben in die Lücke — und im Licht einer an einem Eisenring aufgehängten Laterne in sein Notizbuch kritzelte. Der Ogier wollte die Ereignisse des Tages mit ihm durchsprechen, doch Perrin, dem schon der Unterkiefer schmerzte, so gewaltsam mußte er das Gähnen unterdrücken, war der Meinung, das Schiff müsse sich jetzt weit genug flußabwärts befinden, daß er in Ruhe schlafen könne. Und vielleicht träumen. Selbst wenn sie es versuchten, würden Wölfe nicht mit einem von Rudern und einer starken Strömung vorwärtsgetriebenen Schiff mithalten können.