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»Wo?«

Egwene sah sich etwas weniger hastig auf dem Deck um, ob irgend jemand nahe genug sei, zu lauschen. Kapitän Ellisor stand immer noch am Heck neben dem Mann mit nacktem Oberkörper, der das lange Steuerruder hielt. Ein weiteres Besatzungsmitglied hing in den Tauen am Bug und suchte den Fluß nach Anzeichen von Schlammbänken ab. Zwei andere noch tapsten an Deck auf und ab und zogen von Zeit zu Zeit Taue zurecht, um die Segelstellung zu halten oder zu verändern. Die übrige Besatzung befand sich unter Deck. Einer der beiden an Deck blieb stehen und überprüfte die Halteleinen des Ruderboots, das umgekehrt an Deck festgemacht war. Sie wartete, bis er weiter weg war, bevor sie weitersprach.

»Närrin!« murmelte sie. »Ich meine natürlich mich selbst, Elayne, und nicht dich. Also schau mich nicht so wütend an.« Sie fuhr im Flüsterton fort: »Ein Grauer Mann ist hinter Mat her, Elayne. Das muß dieser Traum bedeuten, aber ich war blind. Ich bin wirklich eine Närrin!«

Das Glühen um Elayne herum verflog. »Geh nicht so hart mit dir selbst ins Gericht«, flüsterte sie zurück. »Vielleicht stimmt es, aber ich bin auch nicht darauf gekommen und Nynaeve genausowenig.« Sie schwieg einen Moment lang, und rotgoldene Locken flogen, als sie den Kopf schüttelte. »Aber das ergibt keinen Sinn, Egwene. Warum sollte ein Grauer Mann hinter Mat hersein? In meinem Brief an Mutter steht nichts, was uns auch nur im geringsten gefährden könnte.«

»Ich weiß nicht, warum«, sagte Egwene. »Es muß aber einen Grund geben. Ich bin sicher, daß dies die Bedeutung meines Traumes war.«

»Selbst wenn du recht hast, Egwene, können wir nichts dagegen unternehmen.«

»Das ist mir klar«, antwortete Egwene in bitterem Ton. Sie wußte nicht einmal, ob er sich vor oder hinter ihnen befand. Vor ihnen, vermutete sie. Mat war sicher augenblicklich abgereist. »Wie auch immer«, knurrte sie zu sich selbst, »es hilft alles nichts. Ich weiß endlich, was einer meiner Träume bedeutet, und es hilft mir kein bißchen!«

»Aber wenn du nun eine Bedeutung kennst«, sagte Elayne, »dann wirst du vielleicht bald auf weitere kommen. Wenn wir uns hinsetzen und alles durchsprechen... «

Der Blaue Kranich erzitterte und schwankte. Egwene stürzte auf das Deck, und Elayne fiel genau auf sie. Als sich Egwene wieder hochrappelte, glitt das Ufer nicht mehr an ihnen vorüber. Das Schiff lag still, Bug nach oben und mit deutlicher Schlagseite. Die Segel flatterten lautstark im Wind.

Chin Ellisor richtete sich auf und rannte zum Bug, ohne dem Rudergänger aufzuhelfen. »Du blinder Wurm von einem Bauern!« schrie er den Mann im Tauwerk an, der sich an der Reling festklammerte, um nicht ganz über Bord geworfen zu werden. »Du Dreck fressender Ziegensohn! Bist du noch nicht lange genug auf dem Fluß, um zu erkennen, wie sich das Wasser über einer Schlammbank staut?« Er packte den Mann an der Reling bei den Schultern und zerrte ihn an Deck zurück. Dann schob er ihn beiseite, um selbst auf den Fluß hinunterblicken zu können. »Wenn mein Rumpf deinetwegen ein Leck abbekommen hat, stopfe ich dich persönlich zum Abdichten hinein!«

Die anderen Besatzungsmitglieder waren auch wieder auf den Beinen, und weitere kamen die Leitern heraufgeklettert. Alle rannten nach vorn und drängten sich um den Kapitän.

Nynaeve erschien in einer Luke, von der aus man die Passagierkabinen erreichte, und strich sich den Rock glatt. Sie zog hart an ihrem Zopf — ihre typische Angewohnheit, wenn sie erregt war —, sah die am Bug zusammengedrängten Männer finster an und schritt zu Egwene und Elayne herüber. »Wir sind auf irgend etwas aufgelaufen, nicht wahr? Und das nach all dem Geschwätz, er kenne den Fluß genauso gut wie seine Frau. Die Frau erhält vermutlich noch nicht einmal ein Lächeln von ihm.« Sie riß wieder an dem dicken Zopf und schob sich zwischen den Matrosen hindurch zum Kapitän. Sie alle betrachteten eingehend das Wasser unter ihnen.

Es hatte keinen Sinn, sich ihr anzuschließen. Er bringt uns schneller wieder hier weg, wenn man ihn in Ruhe läßt. Nynaeve erzählte ihm wahrscheinlich, wie er seine eigene Arbeit zu tun habe. Elayne machte auch den Eindruck, genau dasselbe im Sinn zu haben, denn sie schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie beobachtete, wie der Kapitän und die Besatzungsmitglieder respektvoll ihre Aufmerksamkeit von dem abwandten, was sich unter dem Bug abspielte, und statt dessen Nynaeve anblickten. Eine Welle der Erregung machte sich unter den Männern breit und wurde immer stärker. Einen Augenblick lang konnte sie die Hände des Kapitäns sehen, die sich protestierend über die Köpfe weg hoben, und dann stolzierte Nynaeve davon. Sie machten ihr unter Verbeugungen Platz, und Ellisor eilte neben ihr her. Er wischte sich das Gesicht mit einem großen, roten Taschentuch ab. Seine erregte Stimme wurde nun hörbar, als sie sich ihnen näherten.

»... gute fünfzehn Meilen bis zum nächsten Dorf am andoranischen Ufer, Aes Sedai, und mindestens fünf oder sechs Meilen flußabwärts auf der Seite von Cairhien! Sicher, es wird von Soldaten aus Andor gehalten, aber sie kontrollieren ja nicht die Meilen von hier bis zum Ort!« Er wischte sich das Gesicht wieder ab, als triefe es von Schweiß.

»Ein gesunkenes Schiff«, verkündete Nynaeve den beiden anderen Frauen. »Der Kapitän glaubt, das sei das Werk von Flußpiraten. Er will versuchen, mit Hilfe der Ruder wieder achtern freizukommen, glaubt aber selbst kaum, daß es gelingen wird.«

»Wir machten gute Fahrt, als wir aufliefen, Aes Sedai. Ich wollte Euretwegen schnell vorankommen.« Ellisor rieb sich das Gesicht noch stärker ab. Egwene wurde klar, daß er Angst hatte, die Aes Sedai würden ihm Vorwürfe machen. »Wir sitzen ziemlich fest. Aber ich glaube nicht, daß Wasser in den Rumpf dringt, Aes Sedai. Es gibt keinen Grund zur Unruhe. Ein anderes Schiff wird vorbeikommen. Und zwei Sätze Ruder werden uns dann bestimmt freibekommen. Es ist nicht nötig, Euch am Ufer abzusetzen, Aes Sedai. Ich schwöre es beim Licht!«

»Hast du daran gedacht, das Schiff zu verlassen?« wollte Egwene wissen. »Hältst du das für richtig?«

»Natürlich ist es...!« Nynaeve brach ab und blickte sie finster an. Egwene erwiderte den Blick, ohne nachzugeben. Dann fuhr Nynaeve ruhiger, wenn auch in nervösem Tonfall fort: »Der Kapitän meint, es könne eine Stunde dauern, bis ein anderes Schiff vorbeikommt. Eines mit genug Rudern, daß es sich auch lohnt. Oder vielleicht dauert es einen ganzen Tag. Oder auch zwei! Ich glaube nicht, daß wir uns ein oder zwei Tage Aufenthalt leisten können. Wir können uns in diesem Dorf... wie habt Ihr es genannt, Kapitän? Jurene?... wir können also in zwei Stunden oder weniger zu Fuß dieses Dorf erreichen. Wenn Kapitän Ellisor sein Schiff so schnell freibekommt, wie er hofft, können wir dort wieder an Bord gehen. Er sagt, er wird anlegen und nachsehen, ob wir dort sind. Wenn er aber nicht freikommt, können wir uns in Jurene wieder einschiffen. Vielleicht finden wir dort sogar schon ein Schiff vor. Der Kapitän meint, daß die Händler dort anlegen, weil die andoranischen Soldaten Schutz gewähren.« Sie atmete tief durch, doch ihre Stimme klang noch gestreßter: »Habe ich euch meine Gründe ausführlich genug erklärt? Oder wollt ihr noch mehr hören?«

»Es ist mir klar«, warf Elayne schnell ein, bevor Egwene etwas sagen konnte. »Und ich halte es für eine gute Idee. Das denkst du doch auch, Egwene, nicht wahr?«

Egwene nickte widerwillig. »Ja, ich denke schon.«

»Aber, Aes Sedai«, protestierte Ellisor, »geht doch wenigstens auf der Seite Andors ans Ufer. Der Krieg, Aes Sedai. Piraten und alle möglichen Halunken treiben sich auf der Seite Cairhiens herum, und die Soldaten dort sind auch nicht viel besser. Das Wrack unter unseren Füßen zeigt doch, welche Sorte von Menschen das hier sind!«

»Wir haben bisher keine lebendige Seele auf der Seite Cairhiens gesehen«, sagte Nynaeve. »Und außerdem sind wir auch nicht gerade hilflos, Kapitän. Ich werde nicht fünfzehn Meilen weit laufen, wenn ich nach sechs Meilen ans Ziel kommen kann.«