»Die Siegel werden brüchig, Perrin. Einige sind bereits zerbrochen, auch wenn die Welt nichts davon ahnt. Auch nichts davon ahnen darf. Der Vater der Lügen ist deshalb nicht frei. Noch nicht. Aber wenn die Siegel immer brüchiger werden, wer weiß dann, welche der Verlorenen bereits in Freiheit sind? Lanfear? Sammael? Asmodean oder Be'lal oder Ravhin? Ishamael selbst, der Verräter aller Hoffnung? Sie waren insgesamt dreizehn, Perrin, und durch die Siegel gebunden, aber nicht im gleichen Gefängnis mit dem Dunklen König. Dreizehn der mächtigsten Aes Sedai aus dem Zeitalter der Legenden. Der Schwächste von ihnen ist noch stärker als die zehn stärksten Aes Sedai von heute zusammengenommen. Selbst der Dümmste von ihnen besitzt all das Wissen des Zeitalters der Legenden. Und jeder Mann, jede Frau unter ihnen gab das Licht auf und verschrieb seine Seele dem Schatten. Was, wenn sie frei sind und draußen auf ihn warten? Denen werde ich ihn gewiß nicht überlassen!«
Perrin schauderte, teils wegen der Eiseskälte in ihren letzten Worten, teils bei dem Gedanken an die Verlorenen. Er wollte sich nicht vorstellen, was geschähe, wenn auch nur einer davon wieder in Freiheit wäre. Seine Mutter hatte ihm mit ihren Namen Angst eingejagt, als er klein war. Ishamael holt sich die Jungen, die ihrer Mutter nicht die Wahrheit sagen. Lanfear wartet nachts auf Jungen, die nicht zur rechten Zeit ins Bett gehen. Daß er jetzt älter war, half nicht viel, besonders weil er nun wußte, daß sie Wirklichkeit waren. Und es half auch nicht, daß Moiraine behauptete, sie könnten bereits frei sein.
»Im Shayol Ghul gefangen«, flüsterte er und wünschte sich, immer noch daran glauben zu können. Besorgt las er Rands Brief noch einmal. »Träume. Gestern hat er auch von Träumen gesprochen.«
Moiraine trat näher an ihn heran und sah ihm in die Augen. »Träume?« Lan und Uno kamen herein, doch sie bedeutete ihnen zu schweigen. Der kleine Raum war jetzt total überfüllt. Neben dem Ogier befanden sich fünf Menschen darin. »Welche Träume habt Ihr in den letzten Nächten gehabt, Perrin?« Sie überhörte seinen Einwand, es sei nichts Außergewöhnliches daran gewesen. »Sagt es mir«, bohrte sie. »Welcher von Euren Träumen war außergewöhnlich? Berichtet!« Ihr Blick hielt ihn fest wie die Feuerzange eines Schmieds und zwang ihn zum Sprechen.
Er sah sich zu den anderen um. Sie starrten ihn alle unverwandt an — sogar Min. Dann erzählte er zögernd von dem Traum, der ihm ungewöhnlich vorkam und der jede Nacht wiederkehrte. Der Traum von dem Schwert, das er nicht berühren konnte. Er erwähnte den Wolf nicht, der letztes Mal auch darin erschienen war.
»Callandor«, hauchte Lan, als er fertig war. Steinernes Gesicht hin oder her — er wirkte erschlagen.
»Ja«, sagte Moiraine, »aber wir müssen ganz sichergehen. Sprich mit den anderen.« Als Lan hinauseilte, wandte sie sich Uno zu: »Und wie steht es mit Euren Träumen? Habt Ihr auch von einem Schwert geträumt?«
Der Schienarer blickte unruhig auf seine Füße. Dann schließlich sah das aufgemalte Auge auf seiner Augenklappe Moiraine in die Augen, doch sein echtes Auge blinzelte und sein Blick war unstet. »Ich träume die ganze Zeit von flam... oh, von Schwertern, Moiraine Sedai«, sagte er steif. »Ich schätze, ich habe auch in den letzten Nächten von einem Schwert geträumt. Ich erinnere mich nicht so an meine Träume wie Lord Perrin hier.«
Moiraine sagte: »Loial?«
»Ich träume immer das gleiche, Moiraine Sedai. Die Haine und die Großen Bäume und das Stedding. Wir Ogier träumen immer von unserem Stedding, wenn wir weg sind.«
Die Aes Sedai wandte sich wieder Perrin zu. »Es war nur ein Traum«, sagte er. »Nichts als ein Traum.«
»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Ihr beschreibt den Saal, den man das Herz des Steins nennt in der Festung ›Stein von Tear‹, als hättet Ihr darin gestanden. Und das leuchtende Schwert ist Callandor, das ›Schwert, das kein Schwert ist‹, das ›Schwert, das nicht berührt werden kann‹.«
Loial fuhr hoch, und prompt stieß er mit dem Kopf gegen das Dach. Er schien es gar nicht zu bemerken. »In den Prophezeiungen des Drachen steht, daß der Stein von Tear niemals fallen wird, bis der Drache Callandor in der Hand hält. Der Fall des Steins von Tear wird eines der bedeutendsten Anzeichen für die Wiedergeburt des Drachen sein. Wenn Rand Callandor hält, muß ihn die ganze Welt als den Drachen anerkennen.«
»Vielleicht.« Das Wort trieb aus dem Mund der Aes Sedai wie eine Eisscholle auf ruhigem Wasser.
»Vielleicht?« fragte Perrin. »Vielleicht? Ich glaubte, dies sei das endgültige Zeichen, was die Prophezeiungen als erfüllt erkennen läßt?«
»Es ist weder das erste, noch das letzte«, sagte Moiraine. »Callandor ist nur ein Teil der Vorzeichen, von denen im Karaethon-Zyklus die Rede ist. Die Geburt am Hang des Drachenbergs war die erste. Er hat aber noch nicht den Widerstand der Staaten gebrochen oder die Welt zerstört. Selbst Gelehrte, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, die Prophezeiungen zu studieren, wissen keineswegs alle Einzelheiten zu interpretieren. Was bedeutet zum Beispieclass="underline" Er wird sein Volk mit dem Schwert des Friedens töten und sie mit dem Blatt vernichten? Was bedeutet: Er wird die Neun Monde fesseln, so daß sie ihm dienen? Und doch haben diese Prophezeiungen im Zyklus das gleiche Gewicht wie Callandor. Es gibt noch mehr. Welche ›Wunden des Wahnsinns und Enttäuschungen aller Hoffnung‹ hat er geheilt? Welche Ketten hat er zerbrochen, und wen hat er in Ketten gelegt? Und manches ist so verworren, daß er es durchaus bereits erfüllt haben kann, auch wenn ich das nicht weiß. Aber, nein. Callandor ist ganz und gar nicht das Ende.«
Perrin zuckte nervös die Achseln. Er kannte nur kleinere Bruchstücke der Prophezeiungen. Er hatte sie noch weniger hören wollen, nachdem Moiraine Rand dieses Banner in die Hand gedrückt hatte. Nein, sogar schon zuvor. Seit eine Reise mit Hilfe des Portalsteins ihn davon überzeugt hatte, daß sein Leben an das Rands gebunden sei.
Moiraine fuhr fort: »Wenn Ihr glaubt, Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan, daß er nur einfach die Hand danach ausstrecken muß, dann seid Ihr ein ebenso großer Narr wie er, falls er das glaubt. Auch wenn er die Reise nach Tear überlebt, kann es sein, daß er den Stein niemals gewinnt.
Die Tairen lieben die Eine Macht nicht gerade und noch weniger jeden Mann, der behauptet, der Drache zu sein. Das Benützen der Macht ist bei Strafe verboten, und Aes Sedai werden allerhöchstens geduldet, solange sie die Macht nicht gebrauchen. Die Prophezeiungen des Drachen nachzuerzählen oder sogar ein Exemplar davon zu besitzen genügt in Tear, um ins Gefängnis zu kommen. Und niemand betritt den Stein von Tear ohne Erlaubnis der Hochlords. Keiner außer den Hochlords wiederum betritt das Herz des Steins. Darauf ist er noch nicht vorbereitet. Noch nicht.«
Perrin knurrte leise. Der Stein würde nicht fallen, bis der Wiedergeborene Drache Callandor in Händen hielt. Wie beim Licht kann er es erreichen — mitten in einer blutigen Festung? Und bevor die Festung gefallen ist? Das ist doch verrückt!
»Warum sitzen wir hier nur herum?« platzte Min heraus. »Wenn Rand nach Tear geht, warum folgen wir ihm dann nicht? Er könnte getötet werden, oder... oder... Warum sitzen wir hier herum?«
Moiraine legte eine Hand auf Mins Kopf. »Weil ich sichergehen muß«, sagte sie sanft. »Es ist nichts Einfaches, vom Rad dazu ausgewählt zu werden, ein großer oder nahezu großer Mensch zu sein. Die Auserwählten des Rads können nur auf sich nehmen, was auf sie zukommt.«
»Ich habe es satt, auf mich zu nehmen, was auf mich zukommt.« Min rieb sich die Augen. Perrin glaubte, darin Tränen zu erkennen. »Rand könnte sterben, während wir warten.« Moiraine streichelte Min über das Haar. Auf dem Gesicht der Aes Sedai war beinahe so etwas wie Mitgefühl zu erkennen.