»Solange Mat lebt«, fuhr Verin fort, »ist für alle anderen das Horn eben nur ein Horn und nicht mehr. Wenn er stirbt, kann natürlich ein anderer in das Horn stoßen und ein neues Band zwischen Mensch und Horn knüpfen.« Ihr Blick war fest und zeigte keine Unruhe über das, was sie da angedeutet hatte.
»Viele werden sterben, bevor wir unser Ziel erreicht haben, Tochter.« Und wen könnte ich sonst noch gebrauchen, um das Horn erneut zu betätigen? Ich werde doch jetzt nicht das Risiko eingehen, es wieder zu Moiraine zurückbringen zu lassen? Einer der Gaidin könnte es vielleicht schaffen. Vielleicht. »Das Muster muß sein Schicksal erst noch deutlich machen.«
»Ja, Mutter. Und das Horn?«
»Für den Augenblick«, sagte die Amyrlin entschlossen, »werden wir ein Versteck dafür suchen, von dem nur wir zwei wissen. Danach überlege ich mir, was zu geschehen hat.«
Verin nickte. »Wir Ihr wollt, Mutter. Natürlich wird Euch in wenigen Stunden zumindest eine Entscheidung abgenommen werden.«
»Ist das alles gewesen, was Ihr für mich habt?« fauchte Siuan. »Falls ja, muß ich mich noch mit diesen drei Ausreißerinnen befassen.«
»Da ist auch noch die Sache mit diesen Seanchan, Mutter.«
»Was ist damit? All meine Berichte sagen, daß sie übers Meer zurück geflohen sind oder zumindest dorthin, von woher sie kamen.«
»Es scheint so, Mutter. Doch ich fürchte, wir werden es wieder mit ihnen zu tun bekommen.« Verin zog ein kleines, ledernes Notizbuch hinter ihrem Gürtel hervor und begann, darin zu blättern. »Sie haben sich als Vorläufer bezeichnet, oder Die Zuvor Kamen, und von der Rückkehr gesprochen und davon, dieses Land wieder in Besitz zu nehmen. Ich habe mir über alles Notizen gemacht, was ich von ihnen erfahren konnte. Nur von jenen natürlich, die ihnen auch wirklich begegnet waren oder sonst mit ihnen zu tun hatten.«
»Verin, Ihr sorgt Euch wegen eines Hais im Meer der Stürme, während uns hier die Hechte das Netz in Stücke reißen.«
Die Braune Schwester blätterte weiter. »Ein guter Vergleich, Mutter. So ein Hai ist mehr als nur gefährlich.« Sie tippte mit einem Finger auf eine Seite. »Ja. Das ist das Schlimmste daran. Mutter, die Seanchan benutzen die Eine Macht im Kampf. Sie gebrauchen sie als Waffe.«
Siuan faltete krampfhaft die Hände. Die von den Tauben überbrachten Berichte hatten auch davon erzählt. Meist stammten die Berichte nur aus zweiter Hand, doch ein paar Frauen schrieben, sie hätten es selbst erlebt. Die Macht als Waffe mißbraucht. Selbst die getrocknete Tinte auf dem Papier schien Hysterie zu verbreiten. »Das macht uns bereits Kopfzerbrechen, Verin, und es wird noch schlimmer, wenn sich die Geschichte weiter herumspricht und dabei immer mehr aufgebauscht wird. Aber ich kann da nichts machen. Man sagte mir, daß diese Leute weg seien, Tochter. Habt Ihr irgendwelche Anzeichen dafür gesehen, daß dies nicht stimmt?« »Also, nein, Mutter, aber... «
»Bis dahin laßt uns lieber die Hechte aus den Netzen holen, bevor sie noch Löcher in unser Boot nagen.«
Zögernd schloß Verin das Notizbuch und steckte es hinter ihren Gürtel zurück. »Wie Ihr wünscht, Mutter. Falls ich fragen darf: Was wollt Ihr mit Nynaeve und den anderen beiden Mädchen anfangen?«
Die Amyrlin zögerte nun und überlegte. »Bevor ich mit ihnen fertig bin, werden sie sich wünschen, sie könnten hinunter zum Fluß gehen und sich als Köder für Fische verkaufen.« Das war die einfache Wahrheit, aber man konnte sie auf mehr als eine Art auslegen. »Jetzt setzt Euch und erzählt mir alles, was die drei in der Zeit bei Euch gesagt und getan haben. Alles!«
13
Bestrafung
Egwene lag auf dem Bett und starrte die flackernden Schatten an, die ihre einzige Lampe an der Decke tanzen ließ. Sie wünschte sich, irgendwie planen zu können oder wenigstens zu erraten, was weiter zu erwarten sei. Nichts ergab sich. Die Schatten zeigten noch ein vernünftigeres Muster als ihre Gedanken. Sie brachte sich kaum dazu, an Mat zu denken. Ihr Schamgefühl deswegen hielt sich aber in Grenzen. Die Wände erdrückten sie.
Es war ein kahles, fensterloses Zimmer wie alle Quartiere von Novizinnen, klein, quadratisch und weiß getüncht. An einer Wand waren Haken angebracht, um ihre Besitztümer aufzuhängen. An einer zweiten Wand stand das Bett und an der dritten befand sich ein winziges Regal, wo sie früher ein paar Bücher abgestellt hatte, die aus der Burgbibliothek ausgeliehen waren. Ein Waschtisch und ein dreibeiniger Hocker vervollständigten das Mobiliar. Die Fußbodenbretter waren fast weiß vom vielen Schrubben. Das hatte sie jeden Tag im Knien erledigt, zusätzlich zu ihren anderen Aufgaben und Unterrichtsstunden. Novizinnen führten ein einfaches Leben, ob sie nun Tochter eines Wirts waren oder die Tochter-Erbin von Andor.
Sie trug auch wieder das weiße Kleid einer Novizin — selbst Gürtel und Gürteltasche waren weiß —, doch sie konnte sich kaum darüber freuen, das verhaßte Grau endlich los zu sein. Ihr Zimmer war zu sehr zu einer Gefängniszelle geworden. Was, wenn sie mich hier weiterhin einsperren? In diesem Zimmer? Wie eine Zelle. Wie ein Halsband und...
Sie sah die Tür an. Die dunkelhaarige Aufgenommene stand auf der anderen Seite nach wie vor Wache, das wußte sie. Dann rollte sie sich gegen die weißgetünchte Wand. Genau über der Matratze befand sich ein kleines Loch, fast unsichtbar, wenn man nicht wußte, wo man suchen mußte, das von irgendeiner Novizin vor langer Zeit zum nächsten Zimmer durchgebohrt worden war. Egwene zwang sich zum Flüstern.
»Elayne?« Keine Antwort. »Elayne? Schläfst du?«
»Wie könnte ich denn schlafen?« kam Elaynes Antwort als schwaches Flüstern durch das Loch. »Ich hatte mir gedacht, daß wir Schwierigkeiten bekommen, aber das habe ich denn doch nicht erwartet. Egwene, was werden sie mit uns machen?«
Egwene wußte darauf keine Antwort, und ihre Vermutungen wollte sie lieber nicht laut aussprechen. Sie wollte noch nicht einmal daran denken. »Ich hatte wirklich geglaubt, wir seien Heldinnen, Elayne. Wir brachten das Horn von Valere sicher zurück. Wir haben herausbekommen, daß Liandrin eine Schwarze Ajah ist.« Ihre Stimme versagte bei dem Gedanken daran. Die Aes Sedai hatten immer die Existenz der Schwarzen Ajah geleugnet, der Ajah, die dem Dunklen König diente, und man wußte, daß sie bei jeder Erwähnung einer solchen Existenz hochgingen. Aber wir wissen, daß es stimmt. »Wir sollten wirklich Heldinnen sein, Elayne.«
»Mit ›sollte‹ und ›würde‹ baut man keine Brücke« sagte Elayne. »Licht, wie habe ich es gehaßt, wenn Mutter das sagte, aber es stimmt. Verin sagte, daß wir nichts von dem Horn oder Liandrin sagen dürfen, jedenfalls niemandem außer ihr selbst und der Amyrlin. Ich glaube nicht, daß sich irgend etwas so entwickeln wird, wie wir dachten. Das ist nicht fair. Wir haben soviel durchgemacht — du hast soviel durchgemacht. Es ist einfach nicht fair.«
»Verin sagt. Moiraine sagt. Ich weiß, warum die Leute meinen, daß die Aes Sedai alle Marionettenspieler seien. Ich kann schon die Fäden an meinen Armen und Beinen fühlen. Was immer sie entscheiden, wird das Beste für die Weiße Burg sein und nicht das Beste für uns.«
»Aber du willst doch immer noch Aes Sedai werden, oder?«
Egwene zögerte, aber ihre Antwort war an sich von vornherein klar: »Ja«, sagte sie. »Das will ich immer noch. Nur so werden wir schließlich in Sicherheit sein. Aber eines sage ich dir: Ich werde nicht zulassen, daß man mich einer Dämpfung unterzieht.« Das war eine neue Idee, die ihr beim Sprechen erst gekommen war, doch es war ihr klar, daß sie nicht gewillt war, das zurückzunehmen. Aufgeben, die Wahre Quelle zu berühren? Sie konnte sie fühlen, auch jetzt. Sie glühte dicht über ihrer Schulter. Ihr Glanz befand sich gerade außerhalb ihrer Sicht. Sie widerstand dem Begehren, danach zu greifen. Aufgeben, mich von der Einen Macht erfüllen zu lassen, mich lebendiger zu fühlen als je zuvor? Niemals! »Nicht, ohne zu kämpfen.«