»Licht«, knurrte sie, »es gibt keinen anderen Weg, wenn ich nicht einen Krieg innerhalb der Weißen Burg anzetteln will. Und das könnte sowieso geschehen.« Sie ließ sich von der Macht erfüllen, splittete kleinere Ströme ab und lenkte sie.
Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Es war schon so lange her, daß sie diese Worte zum letztenmal gehört hatte, und so fuhr sie zusammen, rutschte auf den glatten Ziegeln aus und fing sich gerade noch vor der Dachkante. Der Boden befand sich hundert Schritt unter ihr. Sie blickte sich um.
Dort auf der Turmspitze, ein wenig gekippt, um sich den schräg nach unten verlaufenden Ziegeln anzugleichen, stand ein silberner, mit Licht gefüllter Torbogen. Der Bogen flackerte und verschwamm zwischenzeitlich etwas, und das weiße Licht wurde von zornigem Rot und Gelb durchzuckt.
Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.
Der Bogen wurde dünn und durchscheinend, und dann verfestigte er sich wieder.
Verzweifelt sah Egwene wieder in den Hof der Verräter hinunter. Sie brauchte Zeit. Es mußte einfach gehen. Alles, was sie brauchte, waren ein paar Minuten, vielleicht zehn, und etwas Glück.
In ihrem Kopf dröhnten Stimmen, nicht die körperlose, unbekannte Stimme, die sie ermahnte, standhaft zu sein, sondern Frauenstimmen, von denen sie beinahe sicher war, daß sie sie kannte.
... kann nicht viel länger halten. Wenn sie jetzt nicht herauskommt...
Haltet durch! Durchhalten, seng Euch, oder ich nehme Euch aus wie die Fische!
... bricht aus, Mutter! Wir können nicht mehr...
Die Stimmen wurden schwächer, summten nach und machten dann Schweigen Platz, doch die unbekannte Stimme meldete sich wieder.
Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.
Es fordert seinen Preis, Aes Sedai werden zu wollen.
Die Schwarzen Ajah warten.
Mit einem Aufschrei der Wut und des Schmerzes warf sich Egwene in den Bogen, der wie ein Hitzeschleier schimmerte. Sie wünschte sich beinahe, sie werde ihn verfehlen und zu Tode stürzen.
Licht pflückte sie Faser für Faser auseinander, zerschnitt die Fasern zu Haaren, spaltete die Haare zu dünnen Fäden des Nichts. Alles trieb auf der Oberfläche des Lichts auseinander; war für immer verloren.
23
Versiegelt
Licht riß sie Faser für Faser auseinander, spaltete die Fasern zu Haaren, die auseinandertrieben und brannten. Dahintreiben und brennen, für immer und ewig. Ewig.
Egwene trat frierend und steif vor Wut aus dem silbernen Torbogen. Sie versuchte, die Eiseskälte ihres Zorns gegen die sengende Hitze ihrer Erinnerungen einzusetzen. Ihr Körper erinnerte sich an das Brennen, doch andere Erinnerungen brannten viel tiefer. Zorn, so kalt wie der Tod.
»Ist das alles, was ich erlebe?« wollte sie wissen. »Ihn wieder und wieder im Stich zu lassen? Ihn zu verraten, zu versagen, und das immer wieder? Ist es das, was mich erwartet?«
Plötzlich wurde ihr klar, das nicht alles so war, wie es sein sollte. Nun war die Amyrlin anwesend, so wie man es Egwene gelehrt hatte, und eine Schwester aus jeder Ajah in vollem Ornat, aber alle blickten sie besorgt an. Jetzt saßen zwei Aes Sedai an jedem der Punkte um den Ter'Angreal herum, und ihnen rann der Schweiß über die Gesichter. Der Ter'Angreal summte, vibrierte beinahe, und wilde Farbblitze durchzuckten das weiße Licht innerhalb der Bögen.
Ganz kurz hüllte das Glühen von Saidar Sheriam ein, als sie Egwene eine Hand auf den Kopf legte. Das ließ Egwene erneut erschauern. »Es geht ihr gut.« Die Herrin der Novizinnen klang erleichtert. »Sie ist unversehrt.« Als habe sie das nicht erwartet.
Die Spannung wich aus den anderen Aes Sedai, die Egwene anblickten. Elaida atmete tief aus und eilte dann davon, um die letzte Schale zu holen. Nur die Aes Sedai um den Ter'Angreal herum entspannten sich nicht. Das Summen hatte nachgelassen und dann begann das Licht zu flackern. Das war das Zeichen, daß der Ter'Angreal zur Ruhe kam, doch diese Aes Sedai machten den Eindruck, als müßten sie bis zum Ende darum kämpfen.
»Was...? Was ist geschehen?« fragte Egwene.
»Seid still«, sagte Sheriam, aber sehr sanft. »Im Moment solltet Ihr schweigen. Es geht Euch gut — das ist die Hauptsache —, und wir müssen die Zeremonie vollenden.«
Elaida kam fast im Laufschritt heran und gab die silberne Schale der Amyrlin in die Hände.
Egwene zögerte nur einen Moment, dann aber kniete sie nieder. Was ist geschehen? Die Amyrlin leerte die Schale langsam über Egwenes Kopf aus. »Ihr seid reingewaschen von Egwene al'Vere aus Emondsfeld. Ihr seid reingewaschen von allen Banden an die Welt. Ihr kommt zu uns, reingewaschen in Herz und Seele. Ihr seid Egwene al'Vere, Aufgenommene der Weißen Burg.« Der letzte Tropfen fiel auf Egwenes Haar. »Ihr seid für uns jetzt versiegelt.«
Diese letzten Worte schienen eine besondere Bedeutung zu haben zwischen Egwene und der Amyrlin. Die Amyrlin gab die Schale einer der anderen Aes Sedai und holte einen goldenen Ring in Form einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biß, hervor. Unwillkürlich zitterte Egwene, als sie die linke Hand hob, und zitterte wieder, als die Amyrlin ihr den Ring der Großen Schlange an den Ringfinger steckte. Wenn sie einmal eine Aes Sedai war, würde sie den Ring an dem Finger tragen, den sie selbst wählte, oder auch gar nicht, wenn es notwendig war, zu verbergen, wer sie war, doch die Aufgenommenen trugen ihn nur an diesem einen Finger.
Mit ernstem Gesicht zog die Amyrlin sie auf die Beine. »Willkommen, Tochter«, sagte sie und küßte sie auf die Wange. Egwene war überrascht, daß es sie dabei kalt überlief. Nicht mehr ›Kind‹, sondern ›Tochter‹. Zuvor war sie immer als Kind angesprochen worden. Die Amyrlin küßte sie auf die andere Wange. »Willkommen.«
Dann trat sie zurück und betrachtete sie kritisch, worauf sie zu Sheriam sagte: »Trocknet sie ab und kleidet sie und geht sicher, daß sie sich wohl fühlt. Ganz sicher, versteht Ihr?«
»Ich bin mir sicher, Mutter.« Sheriam klang überrascht. »Ihr habt gesehen, wie ich in sie hineinfühlte.«
Die Amyrlin knurrte, und ihr Blick wanderte zu dem Ter'Angreal hinüber. »Ich will wissen, was heute abend schiefgegangen ist.« Sie schritt mit zielbewußt schwankendem Rock dort hinüber. Auch die meisten der anderen Aes Sedai schlossen sich ihr an und versammelten sich um den Ter'Angreal, der nun nichts mehr war als ein silbernes Gebilde von Bögen auf einem Ring.
»Die Mutter macht sich Sorgen um Euch«, sagte Sheriam und zog Egwene auf die Seite. Dort gab es ein flauschiges Handtuch für ihr Haar und noch eines für ihren Körper.
»Inwieweit hatte sie einen Grund dafür?« fragte Egwene. Die Amyrlin will nicht, daß ihrer Jagdhündin etwas zustößt, bevor der Hirsch erlegt ist.
Sheriam antwortete nicht. Sie runzelte nur leicht die Stirn und wartete dann, bis Egwene trocken war. Anschließend reichte sie ihr ein weißes Kleid, das unten mit sieben Ringen gesäumt war.
Sie schlüpfte leicht enttäuscht in das Kleid. Sie gehörte zu den Aufgenommenen, hatte den Ring am Finger und die Streifen an ihrem Kleid. Warum fühle ich mich nicht anders als zuvor? Elaida kam herüber mit Egwenes Novizinnenkleid und den Schuhen, der Gürteltasche und den Papieren auf den Armen, die ihr Verin gegeben hatte. Elaida hatte sie in der Hand!