Sonea konzentrierte sich auf die Wand und schuf ein Gemälde, in dem sie ein Bild von Ferguns Gesicht platzierte.
— Gut. Jetzt zeig mir, was er getan hat, um dich zu zwingen, für ihn zu lügen.
Es kostete sie keinerlei Willensanstrengung, Ferguns Bild zu beleben. Das Gemälde schwoll an, bis es die ganze Wand ausfüllte und Rothens Gästezimmer zeigte. Fergun kam auf sie zu und legte Cerys Messer auf den Tisch vor ihr.
Ich habe den Besitzer dieses Messers in einen dunklen, kleinen Raum gesperrt, den niemand hier kennt…
Die Szene verschwamm, dann hockte Fergun vor Sonea und Lorlen, weitaus größer, als er in Wirklichkeit war.
Tu, was ich dir sage, und ich werde deinen Freund freilassen. Mach mir Scherereien, und er wird für alle Zeit bleiben, wo er ist… Den Höheren Magiern wird dann nichts anderes übrig bleiben, als mich zu deinem Mentor zu bestimmen. Du wirst der Gilde beitreten, aber ich versichere dir, es wird nicht für lange sein. Sobald du eine kleine Aufgabe für mich erledigt hast, wird man dich dorthin zurückschicken, wo du hingehörst. Auf diese Weise bekomme ich, was ich will – und du ebenfalls. Du hast nichts zu verlieren, wenn du mir hilfst, aber… Er fuhr mit dem Finger über die Klinge von Cerys Dolch. Wenn du dich weigerst, wirst du deinen kleinen Freund verlieren.
Bei der Erinnerung daran schlug eine Woge des Zorns über Sonea zusammen. Einen Moment lang war sie abgelenkt, und das Bild verblasste, bis es mit der Wand verschmolz. Sie riss sich zusammen und befahl ihm, abermals zu erscheinen.
Als Nächstes beschwor sie ein Bild von Cery herauf, schmutzig und mager, und von dem Raum, in dem er eingekerkert gewesen war. Neben ihm stand, mit selbstgefälliger Miene, Fergun. Der Geruch von Essensresten und menschlichen Exkrementen floss von dem Gemälde in den Raum hinein.
Bei dieser Szene schüttelte das Bild von Lorlen den Kopf und wandte sich zu Sonea um.
— Das ist ungeheuerlich! Wir können wahrhaft von Glück sagen, dass der Hohe Lord deinen Freund heute gefunden hat.
Bei der Erwähnung des schwarzgewandeten Magiers spürte Sonea, wie das Bild sich veränderte. Als sie sich wieder zu der Wand umdrehte, folgte Lorlen ihrem Blick und sog scharf die Luft ein.
— Was ist das?
In dem Rahmen stand der Hohe Lord, angetan mit blutdurchtränkten Bettlerkleidern. Lorlen starrte Sonea fassungslos an.
— Wann hast du diese Szene beobachtet?
— Vor vielen Wochen.
— Wie? Wo?
Sonea zögerte. Wenn sie Lorlen diese Erinnerung zeigte, würde er wissen, dass sie die Gilde unbefugt betreten hatte. Er war nicht in ihren Geist eingedrungen, um das zu sehen, und sie war davon überzeugt, dass er sich nicht beschweren würde, wenn sie ihn aus dem Bild hinausschob.
Aber ein Teil von ihr wollte, dass er es sah. Inzwischen drohte ihr keine Gefahr mehr, wenn die Magier von ihrem Erkundungszug durch die Gilde erfuhren, und sie wollte unbedingt eine Antwort auf das Rätsel des schwarzgekleideten Magiers.
— Also schön. Angefangen hat es folgendermaßen…
Das Bild veränderte sich und zeigte nun Cery, der Sonea durch die Gilde führte. Sie spürte Lorlens Überraschung und dann seine wachsende Erheiterung, als das Bild von Szene zu Szene sprang. Im einen Moment spähte sie durch ein Fenster, im nächsten rannte sie durch den Wald, und schließlich betrachtete sie die Bücher, die Cery gestohlen hatte. Jetzt war Lorlens Belustigung unverkennbar.
— Wer hätte gedacht, dass Jerriks Bücher einen Weg zu dir gefunden haben? Aber was ist nun mit Akkarin?
Sie zögerte, diese Erinnerung zu enthüllen.
— Bitte, Sonea. Er ist unser Anführer und mein Freund. Ich muss es wissen. War er verletzt?
Sonea beschwor die Erinnerung an einen Wald herauf und ließ sie in das Gedankenbild einfließen. Wieder bewegte sie sich zwischen den Bäumen hindurch auf das graue Haus zu. Der Diener erschien, und sie versteckte sich zwischen den Büschen und der Mauer.
Abermals tauchte der Hohe Lord in dem Bild auf, diesmal bekleidet mit einem schwarzen Umhang. Der Diener kam herbei, und Sonea spürte, dass Lorlen ihn erkannte.
— Takan.
Es ist vollbracht, sagte der Hohe Lord, dann legte er seinen Umhang ab, und darunter kamen die blutbefleckten Kleider zum Vorschein. Angewidert blickte er an sich hinab. Hast du meine Roben mitgebracht?
Der Diener murmelte eine Antwort, und der Hohe Lord zog das Bettlerhemd aus. Der Ledergürtel, den er um die Taille trug, und die Dolchscheide kamen zum Vorschein. Er wusch sich, dann verschwand er kurz und kam in schwarzen Roben zurück.
Als Nächstes griff er nach der Scheide, zog den glitzernden Dolch heraus und wischte ihn an einem Tuch ab. Jetzt fing Sonea Überraschung und Verwirrung von Lorlen auf. Der Hohe Lord blickte seinen Diener an.
— Der Kampf hat mich geschwächt, sagte er. Ich brauche deine Stärke.
Der Diener ließ sich auf ein Knie nieder und hielt ihm den Arm hin. Der Hohe Lord fuhr mit der Klinge über die Haut des Mannes und legte dann eine Hand auf die Wunde. Sonea spürte das Echo eines seltsamen Flatterns in ihrem Kopf.
— Nein!
Eine Woge des Entsetzens schlug über ihr zusammen. Vor Schreck über die Wucht von Lorlens Gefühlen ließ Soneas Konzentration abrupt nach. Das Bild wurde schwarz, dann verschwand es zur Gänze.
— Das kann nicht sein! Nicht Akkarin!
— Was ist los? Ich verstehe das nicht. Was hat er getan?
Lorlen schien sich mit Macht zusammenzureißen. Sein Bild erlosch, und Sonea begriff, dass er ihren Geist verlassen hatte.
— Beweg dich nicht und öffne auch nicht die Augen. Ich muss nachdenken, bevor ich ihm wieder gegenübertrete.
Einige Herzschläge lang schwieg er, dann kehrte seine Aura zurück.
— Was du gesehen hast, ist verboten, erklärte er ihr. Es ist das, was wir schwarze Magie nennen. Mithilfe dieser Magie kann ein Magier von jedem lebenden Geschöpf, sei es Mensch oder Tier, Kraft beziehen. Dass Akkarin diese Magie benutzt hat, ist… ist unvorstellbar schrecklich. Er ist sehr mächtig – mächtiger als jeder andere von uns… Ah! Das muss der Grund für seine ungewöhnliche Kraft sein! Wenn das so ist, dann muss er diese verderbten Künste bereits praktiziert haben, bevor er aus dem Ausland zurückgekehrt ist…
Lorlen hielt inne, um diesem Gedanken nachzugehen.
— Er hat sein Gelübde gebrochen. Man sollte ihn seines Amtes entkleiden und verstoßen. Wenn er diese Kräfte benutzt hat, um zu töten, würde ihm seinerseits der Tod als Strafe drohen… aber…
Sonea spürte die Qual des Magiers. Erneut herrschte lange Zeit Stille in ihren Gedanken.
— Lorlen?
Er schien sich wieder gefasst zu haben.
— Ah, es tut mir Leid, Sonea. Er war mein Freund, seit wir beide als Novizen der Gilde beigetreten sind. So viele Jahre… Und ausgerechnet ich musste das entdecken!
Als er wieder zu sprechen begann, schwang in seinen Worten kalte Entschlossenheit mit.
— Wir müssen ihn aus dem Amt entfernen, aber nicht jetzt. Er ist zu mächtig. Wenn wir ihn deswegen zur Rede stellen und er gegen uns kämpft, könnte er ohne Weiteres siegen – und jeder Mord, den er begeht, würde ihn stärker machen. Wenn sein Geheimnis offenbar wird und er keinen Grund mehr hat, sein Verbrechen zu verbergen, könnte er wahllos jeden töten, der sich ihm in den Weg stellt. Die ganze Stadt wäre in Gefahr.