Dannyl zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene, bevor er auf den Mann hinabblickte, der in dem Sessel saß. Das tadellos gekämmte, blonde Haar glänzte im Licht des Raums. Der Mann hatte die Augen halb geschlossen und die Beine übereinander geschlagen. Jetzt zeigte er auf den Hohen Lord. Auf seiner Schläfe klebte ein kleines, quadratisches Pflaster.
»Und wie wollt Ihr das zuwege bringen, Lord Fergun?«, fragte Lorlen sanft.
Fergun zuckte die Achseln. »Es wäre nicht allzu schwierig, den Bereich zu räumen. Die Häuser sind nicht besonders stabil gebaut, und es dürfte keine große Anstrengung kosten, die Tunnel darunter zum Einsturz zu bringen.«
»Aber jede Stadt wächst und dehnt sich aus«, bemerkte Lorlen. »Wenn es innerhalb der Stadtmauern keinen Platz mehr gibt, ist es nur natürlich, dass die Menschen außerhalb der Mauern bauen. Es gibt in den Hüttensiedlungen Bereiche, die kaum anders aussehen als die Stadtviertel innerhalb der Mauern. Die Grundmauern dort sind stabil, und die Straßen verfügen über eine gut funktionierende Kanalisation. Die Bewohner dieser Stadtteile nennen die Hüttensiedlungen inzwischen den Äußeren Ring.«
Fergun beugte sich vor. »Aber selbst unter diesen Häusern gibt es Geheimgänge. Ich versichere Euch, ihre Bewohner sind ausgesprochen argwöhnische Menschen. Jedes Haus, das auf derartigen Tunneln erbaut ist, sollte als Teil einer kriminellen Verschwörung eingeschätzt und abgerissen werden.«
Akkarin hob kaum merklich die Augenbrauen. Lorlen sah den Hohen Lord von der Seite an und lächelte. »Wenn sich das Problem der Diebe doch nur auch so leicht lösen ließe.« Dann wandte er sich Rothen zu und lächelte. »Guten Abend, Lord Rothen und Lord Dannyl.«
Fergun hob den Kopf. Sein Blick wanderte zwischen Dannyl und Rothen hin und her, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ah, Lord Rothen.«
»Guten Abend, Hoher Lord, Administrator«, sagte Rothen und nickte den Höheren Magiern zu. »Und guten Abend, Lord Fergun. Geht es Euch wieder besser?«
»Ja, ja«, erwiderte Fergun und legte eine Hand auf den kleinen Verband an seiner Schläfe. »Danke der Nachfrage.«
Dannyl sah den anderen Mann ausdruckslos an. Es war unhöflich, aber nicht ungewöhnlich, dass Fergun »vergaß«, ihn zu begrüßen. Dass er es jedoch in Gegenwart des Hohen Lords tat, war überraschend.
Lorlen verschränkte die Hände. »Mir ist aufgefallen, dass ihr beide heute länger als die meisten anderen in den Hüttensiedlungen geblieben seid. Habt Ihr irgendwelche Hinweise gefunden, die uns zu dem Mädchen führen könnten?«
Rothen schüttelte den Kopf und berichtete dann über ihre Versuche, den unterirdischen Gängen zu folgen. Dannyl selbst sagte nichts, sondern sah nur den Hohen Lord an. Eine vertraute Nervosität regte sich in ihm. Es ist zehn Jahre her, dass ich meinen Abschluss gemacht habe, aber ich reagiere noch immer auf ihn, als sei ich ein Novize, überlegte er.
Dannyls Pflichten und Interessen brachten ihn nur selten mit dem Führer der Gilde zusammen. Wie immer empfand er ein leichtes Staunen über die jugendliche Erscheinung Akkarins. Als Akkarin vor fünf Jahren in sein Amt erhoben worden war, hatten sich viele seiner Kollegen dagegen gewehrt, einen so jungen Magier zum Hohen Lord zu machen. Die Führer der Gilde wurden zwar aus den Reihen der stärksten Magier gewählt, aber dennoch bevorzugte man im Allgemeinen ältere Magier, weil sie den jüngeren an Erfahrung und Reife überlegen waren.
Akkarin hatte Kräfte an den Tag gelegt, die weit stärker waren als die jedes anderen Magiers. Dennoch waren es das Wissen und die diplomatischen Fähigkeiten gewesen, die er bei seinen Auslandsreisen erworben hatte, die die Gilde schließlich dazu bewogen hatten, ihn zu wählen. Von einem Führer der Gilde erwartete man Stärke, Talent, Würde und Autorität, und all diese Dinge besaß Akkarin im Übermaß. Zur Zeit von Akkarins Wahl hatten viele Magier argumentiert, dass Alter im Grunde keine Rolle für diese Position spiele. Wichtige Entscheidungen wurden stets durch Abstimmung getroffen, und die Alltagsgeschäfte der Gilde lagen in den Händen des Administrators.
Obwohl das alles sehr vernünftig klang, vermutete Dannyl, dass einige seiner Kollegen noch immer an der Jugend des Hohen Lords Anstoß nahmen. Ihm war aufgefallen, dass Akkarin inzwischen die altmodische, distinguierte Frisur trug, wie ältere Männer sie bevorzugten: lang und im Nacken säuberlich zusammengebunden. Auch Lorlen hatte diesen Stil übernommen.
Dannyl wandte den Blick dem Administrator zu, der Rothens Schilderung voller Konzentration lauschte. Als engster Freund des Hohen Lords war Lorlen seinerzeit auf Akkarins Vorschlag hin zum Assistenten des damaligen Gildeadministrators ernannt worden. Als der Administrator dann vor zwei Jahren in den Ruhestand getreten war, hatte Lorlen seinen Platz eingenommen.
Lorlen hatte sich als überaus geeignet für diese Position erwiesen. Er war tüchtig und besaß Autorität, vor allem aber war er ein zugänglicher Mensch. Es war keine einfache Rolle, und Dannyl beneidete Lorlen nicht um die langen Arbeitsstunden, die sein Amt erforderte. Von den beiden Positionen war die des Administrators die anstrengendere.
Als Rothen mit seinem Bericht über den vergangenen Tag zum Ende kam, schüttelte Lorlen den Kopf. »Nach allem, was ich bisher über die Hüttenviertel gehört habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass wir sie jemals finden werden.« Er seufzte. »Der König hat befohlen, den Hafen morgen wieder zu öffnen.«
Fergun runzelte die Stirn. »So bald schon? Was ist, wenn sie auf einem Schiff entkommt?«
»Ich bezweifle, dass das Embargo sie daran hindern würde, Imardin zu verlassen, wenn sie es wirklich wollte.« Lorlen blickte zu Rothen auf und lächelte schief. »Wie Lord Rothens ehemaliger Mentor zu sagen pflegte: ›Kyralia würde sich bestens selbst verwalten können, wenn man das Herrschen zum Verbrechen erklärte.‹«
Rothen kicherte. »Ja, Lord Margen war ein wahrer Quell solcher Weisheiten. Ich glaube jedoch nicht, dass wir schon all unsere Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Heute Morgen hat Dannyl mich darauf hingewiesen, dass die Menschen, die die besten Aussichten haben, das Mädchen zu finden, die Hüttenleute selbst sind. Ich denke, er hat Recht.«
Dannyl starrte seinen Freund überrascht an. Rothen würde doch gewiss nicht ihre Absicht offenbaren, Kontakt zu den Dieben aufzunehmen!
»Warum sollten sie uns helfen?«, fragte Lorlen.
Rothen sah Dannyl an und lächelte. »Wir könnten eine Belohnung aussetzen.«
Langsam stieß Dannyl den Atem aus, den er angehalten hatte. Du hättest mich vorwarnen sollen, alter Freund!
»Eine Belohnung!«, rief Lorlen. »Ja, das könnte funktionieren.«
»Eine glänzende Idee«, stimmte auch Fergun zu. »Und wir sollten gleichzeitig jenen, die unsere Suche behindern, eine Geldstrafe auferlegen.«
Lorlen warf Fergun einen tadelnden Blick zu. »Eine Belohnung wird genügen. Eines möchte ich allerdings klarstellen: Bis das Mädchen gefunden ist, soll nichts bezahlt werden, ansonsten wird die gesamte Bevölkerung der Hüttensiedlungen behaupten, sie gesehen zu haben.« Er legte die Stirn in Falten. »Hm, außerdem sollten wir die Menschen nicht ermutigen, selbst Jagd auf das Mädchen zu machen…«
»Wir könnten an den Straßenecken eine Beschreibung von ihr veröffentlichen, zusammen mit den Bedingungen für die Belohnung. Und der Warnung, sich ihr nach Möglichkeit nicht zu nähern«, schlug Dannyl vor. »Außerdem sollten wir die Leute auch dazu ermutigen, uns Bericht zu erstatten, wenn sie sie irgendwo sehen. Das könnte uns einen Hinweis darauf geben, in welchen Stadtteilen sie sich regelmäßig aufhält.«
»Wir könnten einen Plan der Siedlungen zeichnen lassen und die Stellen darin eintragen, an denen sie gesehen wurde«, warf Fergun ein.
»Hm, das wäre tatsächlich hilfreich«, sagte Dannyl und heuchelte widerstrebende Überraschung. Angesichts des Labyrinths von ungezählten Korridoren und Straßen in den Hüttenvierteln würde eine Aufgabe wie diese Fergun monatelang in Atem halten – und er würde ihm nicht in die Quere kommen. Rothen musterte Dannyl mit schmalen Augen, sagte jedoch nichts.