»Und wenn wir es nicht tun?«
Dannyl ließ das Lächeln auf seinem Gesicht erlöschen. »Dann wird sie sterben. Ihre eigenen Kräfte werden sie töten, und sie werden auch einen Teil der Stadt zerstören – obwohl ich Euch nicht sagen kann, wie groß genau der Schaden sein wird, da ich ihre Stärke nicht kenne.« Er machte einen Schritt nach vorn, legte die Hände auf den Tisch und sah den Dieb fest an. »Wenn Ihr uns helft, kann das durchaus zu Eurem Nutzen sein – obwohl Euch klar sein muss, dass die Dinge, die wir offiziell tun können, ihre Grenzen haben.«
Gorin musterte ihn schweigend. Schließlich legte er Feder und Papier fort und wandte den Kopf ganz leicht zur Seite. »He, Dagan! Hol einen Stuhl für unseren Besucher.«
Der Raum war dunkel und muffig. An der einen Wand stapelten sich Versandkisten, von denen viele zerbrochen waren. Wasserpfützen hatten sich in den Ecken gebildet, und überall sonst lag eine dicke Staubschicht.
»Hier hat dein Vater also seine Sachen versteckt?«, fragte Harrin.
Cery nickte. »Pas alter Lagerraum.« Er wischte den Staub von einer der Kisten und setzte sich.
»Hier gibt’s kein Bett«, bemerkte Donia.
»Wir werden irgendetwas zusammenbauen«, erwiderte Harrin. Er ging zu den Kisten hinüber und stöberte eine Weile herum.
Sonea war in der Tür stehen geblieben, entsetzt über die Aussicht, die Nacht an einem so kalten und unfreundlichen Ort verbringen zu müssen. Seufzend ließ sie sich auf die unterste Treppenstufe sinken. Sie hatten während der Nacht dreimal das Versteck gewechselt, um den Leuten aus dem Weg zu gehen, die versessen darauf waren, die Belohnung der Magier einzustreichen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie tagelang nicht mehr geschlafen. Jetzt schloss sie die Augen und gestattete sich, ein wenig zu dösen. Harrins Gespräch mit Donia verblasste, ebenso wie der Klang von Schritten aus dem Gang hinter ihr.
Schritte?
Sonea schlug die Augen auf, drehte sich um und bemerkte ein Licht, das in einiger Entfernung in der Dunkelheit hin und her schwankte.
»He! Da kommt jemand.«
»Was?« Harrin durchquerte hastig den Raum und blickte in den Korridor hinaus. Er lauschte einen Moment lang, dann zog er Sonea auf die Füße und zeigte in die gegenüberliegende Ecke des Lagerraums. »Da rüber mit dir. Und lass dich auf keinen Fall sehen.«
Als Sonea seinen Befehl befolgt hatte, trat Cery neben Harrin. »Niemand kommt hierher«, sagte er. »Der Staub auf den Treppenstufen war unberührt.«
»Dann müssen sie uns gefolgt sein.«
Cery fluchte leise und wandte sich zu Sonea um. »Bedeck dein Gesicht. Vielleicht suchen sie etwas anderes.«
»Wir bleiben hier?«, fragte Donia.
Cery nickte. »Es bleibt uns nichts anderes übrig. Früher einmal gab es einen weiteren Gang, aber den haben die Diebe schon vor Jahren dicht gemacht. Deshalb habe ich es so lange vermieden, hierher zu kommen.«
Inzwischen waren die Schritte deutlicher zu hören. Harrin und Cery zogen sich von der Tür zurück und warteten. Sonea hüllte sich tiefer in ihren Kapuzenmantel und ging zu Donia hinüber, die an der gegenüberliegenden Wand stand.
Stiefel erschienen im Korridor, dann Hosen, Oberkörper und Gesichter, während die Neuankömmlinge langsam die Treppe hinunterstiegen. Vier Jungen traten durch die Tür. Sie sahen Harrin und Cery an, und als sie Sonea entdeckten, tauschten sie eifrige Blicke.
»Burril«, sagte Harrin. »Was hast du hier zu suchen?«
Ein stämmiger Junge mit muskulösen Armen ging breitbeinig auf Harrin zu. Sonea fröstelte. Dies war der Junge, der sie bezichtigt hatte, eine Spionin zu sein.
Ein Stich durchzuckte sie, als sie einen seiner Begleiter erkannte. Sie hatte Evin als einen der stilleren Jungen von Harrins Bande in Erinnerung. Er hatte ihr beigebracht, wie man beim Kästchenspiel mogeln konnte. Als er jetzt, eine schwere Eisenstange in der Hand, herumfuhr, lag keine Freundschaft mehr in seinem Blick. Sonea schauderte und wandte sich zur Seite.
Die beiden anderen Jungen hatten schwere Holzprügel mitgebracht. Wahrscheinlich hatten sie diese behelfsmäßigen Knüppel irgendwo entlang des Weges aufgelesen. Sonea rechnete sich verzweifelt ihre Chancen im Falle eines Kampfes aus. Vier gegen vier. Sie bezweifelte, dass Donia jemals zu kämpfen gelernt hatte oder dass eine von ihnen es mit Burrils Verbündeten würde aufnehmen können. Aber wenn sie sich beide zusammen auf einen dieser Jungen stürzten, konnten sie vielleicht etwas ausrichten. Sie bückte sich und griff nach einem Holzbrett von einer der zerbrochenen Kisten.
»Wir wollen nur das Mädchen«, erklärte Burril.
»Wir sind unter die Petze gegangen, wie, Burril?« Harrins Stimme troff vor Verachtung.
»Das Gleiche wollte ich dich eigentlich fragen«, entgegnete Burril. »Wir haben dich seit Tagen nicht mehr gesehen. Dann hören wir von der Belohnung, und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Du wolltest das Geld für dich behalten.«
»Nein, Burril«, widersprach Harrin entschieden. »Sonea ist eine Freundin. Ich verkaufe meine Freunde nicht.«
»Unsere Freundin ist sie nicht«, erwiderte Burril und sah seine Gefährten an.
Harrin verschränkte die Arme vor der Brust. »So ist das also. Du hast nicht lange gebraucht, um dich zum Anführer aufzuschwingen. Du kennst die Regeln, Burril. Entweder du stehst auf meiner Seite, oder du bist draußen.« Er blickte zu Burrils Verbündeten hinüber. »Für euch drei gilt das Gleiche. Wollt ihr diesem Petz folgen?«
Obwohl die drei nicht von der Stelle wichen, wirkten sie ein wenig verunsichert. Ihre Mienen waren verschlossen.
»Hundert Goldstücke«, sagte Burril leise. »Ihr wollt auf so viel Geld verzichten, nur damit ihr diesem Narren weiter auf Schritt und Tritt folgen könnt? Wir könnten leben wie Könige.«
Die Mienen der Jungen verhärteten sich.
»Verschwinde, Burril«, knurrte Harrin.
Plötzlich blitzte in Burrils Hand ein Messer auf, und er deutete damit auf Sonea. »Nicht ohne das Mädchen. Schick sie rüber.«
»Nein.«
»Dann müssen wir sie uns holen.«
Burril trat einen Schritt auf Harrin zu. Als Burrils Kumpane Anstalten machten, ihn zu umzingeln, sprang Cery mit einem Satz neben seinen Freund, die Hände in den Taschen vergraben und einen stählernen Ausdruck in den Augen.
»Na komm schon, Harrin«, schmeichelte Burril. »Das ist doch gar nicht nötig. Überlass sie uns. Und anschließend teilen wir uns das Geld, ganz wie in alten Zeiten.«
Harrins Gesicht war verzerrt von Wut und Verachtung. Im nächsten Moment hatte auch er ein Messer in der Hand und sprang auf Burril zu. Burril wich ihm aus und hieb mit seiner eigenen Klinge auf den Älteren ein. Sonea stockte der Atem, als das Messer Harrins Ärmel aufschlitzte und eine rote Blutspur zurückließ. Evin versuchte, Harrin einen Hieb mit der Eisenstange zu versetzen, doch dieser wich mit einem geschickten Sprung aus.
Donia packte sie am Arm. »Halt sie auf, Sonea«, flüsterte sie drängend. »Benutz deine Magie!«
Sonea starrte das andere Mädchen an. »Aber… ich weiß nicht, wie!«
»Versuch einfach etwas. Irgendetwas!«
Als die beiden anderen Jungen auf ihn zukamen, zog Cery zwei Dolche aus seinen Taschen. Als sie die Waffen sahen, zögerten die Jungen. Die Dolche waren mit Lederriemen an seine Handgelenke gebunden, damit er im Notfall die Hände gebrauchen konnte, ohne die Waffen zu verlieren. Sonea konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Cery hatte sich wirklich nicht im Mindesten verändert.
Als der kräftigere der Angreifer auf ihn zusprang, bekam Cery dessen Handgelenk zu fassen und zog ihn ruckartig zu sich heran, so dass der Junge das Gleichgewicht verlor. Er taumelte, und sein Holzknüppel fiel klappernd zu Boden. Im nächsten Moment hatte Cery ihm den Arm auf den Rücken gedreht und versetzte ihm mit dem Knauf eines Dolchs einen betäubenden Schlag auf den Kopf.
Der Junge sackte auf die Knie. Als sein Gefährte seinen Knüppel in Cerys Richtung schwang, brachte dieser sich mit einem schnellen Schritt in Sicherheit. Hinter ihm wich Harrin Burrils nächstem Hieb aus. Während ihre beiden Beschützer ganz auf den Kampf konzentriert waren, schob Evin sich an ihnen vorbei und kam auf Sonea zu.