Mit einer Grimasse richtete Sonea ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Stock. Sie holte tief Luft und starrte wie gebannt auf das Holzstück. Dann befahl sie ihm, über die Steine in der Herdstelle zu rollen.
Nichts geschah.
Geduld, ermahnte sie sich. Sie brauchte oft mehrere Versuche, bis ihre Magie funktionierte. Also nahm sie alle Willenskraft zusammen und befahl dem Stock abermals, sich zu bewegen.
Das Holz blieb vollkommen reglos liegen.
Sonea seufzte und hockte sich auf den Boden. Wann immer die Magie bisher funktioniert hatte, war sie wütend gewesen, sei es aus Frustration oder aus Hass auf die Gilde. Sie konnte diese Gefühle zwar heraufbeschwören, indem sie sich auf etwas konzentrierte, das sie wütend machte, aber diese Strategie war anstrengend und deprimierend.
Die Magier dagegen benutzten ihre Fähigkeiten ständig, rief sie sich ins Gedächtnis. Trugen sie einen Vorrat an Wut und Hass in sich, der ihren Kräften Nahrung gab? Sonea schauderte. Was waren das für Menschen?
Als sie nun das Holzstück anstarrte, wurde ihr klar, dass sie genau das würde tun müssen. Sie würde ihren Zorn und ihren Hass horten müssen, würde sie aufbewahren müssen für die Gelegenheiten, bei denen sie diese Gefühle brauchte, um Magie zu wirken. Wenn sie es nicht tat, würde sie scheitern, und Faren würde sie an die Gilde ausliefern.
Sie schlang die Arme um sich, und Verzweiflung erfüllte sie. Ich sitze in der Falle, dachte sie. Mir bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder, ich werde eine von ihnen, oder ich lasse mich von ihnen töten.
Ein leises Knistern drang an ihre Ohren, ein Geräusch, wie man es hörte, wenn man ein Stück Stoff hochwarf und es hastig wieder zurückriss. Sonea sprang auf und drehte sich um.
Leuchtend orangefarbene Flammen züngelten an einem kleinen Tisch zwischen zwei Stühlen. Sonea wich mit hämmerndem Herzen zurück.
Habe ich das getan?, dachte sie. Aber ich war doch gar nicht wütend.
Das Feuer knisterte und prasselte, während sich die Flammen vervielfachten. Unsicher, was sie tun sollte, ging Sonea langsam näher heran. Was würde Faren sagen, wenn er feststellen musste, dass sein Versteck zu Asche verbrannt war? Sonea schnaubte leise. Er würde wütend sein und ein klein wenig enttäuscht, weil sein zauberkundiger Schoßhund den Tod gefunden hatte.
Rauch stieg auf und kräuselte sich unter der Decke. Sonea kroch auf Händen und Füßen durch den Raum, packte den Tisch an einem seiner Beine und zog ihn zu sich heran. Die Bewegung ließ das Feuer noch weiter auflodern. Sonea prallte vor der Hitze zurück, dann hob sie den Tisch an und warf ihn in den Kamin.
Seufzend sah sie zu, wie das Feuer den Tisch verschlang. Immerhin hatte sie soeben etwas hinzugelernt. Tische brachen nicht aus eigenem Antrieb in Flammen aus. Wie es aussah, war auch Verzweiflung ein Gefühl, mit dem sich Magie heraufbeschwören ließ.
Wut, Hass und Verzweiflung, überlegte Sonea. Was für ein Spaß es doch ist, Magierin zu sein.
»Hast du das gespürt?«, fragte Rothen mit vor Erregung angespannter Stimme.
Dannyl nickte. »Ja. Es ist allerdings nicht das, was ich erwartet hatte. Ich habe es mir vollkommen anders vorgestellt, Magie zu spüren – ich dachte, es sei eher so, als könne man Gesang fühlen. Dies hier fühlte sich mehr wie ein Husten an.«
»Ein magisches Husten.« Rothen kicherte. »Was für eine interessante Art, dieses Phänomen zu beschreiben.«
»Wenn du nicht wüsstest, wie man singt oder spricht, würdest du dann nicht auch stattdessen unkontrollierte Laute von dir geben? Vielleicht hört sich Magie so an, wenn man sie nicht beherrscht.« Dannyl blinzelte, dann trat er vom Fenster zurück und rieb sich die Augen. »Es ist schon spät, und ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren. Wir sollten zusehen, dass wir ein wenig Schlaf bekommen.«
Rothen nickte, trat aber nicht vom Fenster weg. Er blickte hinaus auf die wenigen Lichter, die die Stadt noch erhellten.
»Wir lauschen schon seit Stunden. Es wird nichts dabei herauskommen, wenn wir weitermachen«, bemerkte Dannyl. »Wir wissen jetzt, dass wir sie spüren können. Du solltest auch ein wenig schlafen, Rothen. Wir müssen morgen hellwach sein.«
»Es erscheint mir unglaublich, dass sie uns so nahe ist, wir sie aber trotzdem bisher nicht finden konnten«, erwiderte Rothen leise. »Ich frage mich, was sie zu tun versucht haben mag.«
»Rothen«, sagte Dannyl streng.
Der alte Magier seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Er lächelte matt. »Na gut. Ich werde versuchen, etwas zu schlafen.«
»Schön.« Solchermaßen zufriedengestellt, ging Dannyl zur Tür hinüber. »Ich sehe dich dann morgen.«
»Gute Nacht, Dannyl.«
Nachdem sein Freund die Tür geschlossen hatte, drehte Dannyl sich noch einmal um und sah zu seiner Beruhigung, dass sein Freund tatsächlich ins Schlafzimmer ging. Rothens Interesse daran, das Mädchen zu finden, überstieg bloße Pflichterfüllung bei weitem. Während Dannyl den Korridor hinunterschlenderte, spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen.
Vor etlichen Jahren, als Dannyl noch Novize gewesen war, hatte Fergun als Rache für einen Streich gewisse Gerüchte über ihn in Umlauf gebracht. Dannyl hatte nicht erwartet, dass irgendjemand Fergun ernst nehmen würde, aber als die Lehrer und Novizen anfingen, ihn anders zu behandeln als die anderen, und er begriff, dass er nichts tun konnte, um ihre Wertschätzung wiederzugewinnen, hatte er jeden Respekt vor seinesgleichen verloren. Die Begeisterung, mit der er früher am Unterricht teilgenommen hatte, verebbte, und er fiel immer weiter hinter die anderen zurück.
Irgendwann hatte Rothen ihn dann beiseite genommen, und mit scheinbar endloser Entschlossenheit war es ihm gelungen, Dannyls Interesse an der Magie neu zu entfachen. Anscheinend hatte er eine besondere Leidenschaft dafür, jungen Menschen in Nöten beizustehen. Obwohl Dannyl davon überzeugt war, dass sein Freund so entschlossen war wie eh und je, konnte er sich der Frage nicht erwehren, ob Rothen wirklich darauf vorbereitet war, die Ausbildung dieses Mädchens in die Hand zu nehmen. Zwischen einem mürrischen Novizen und einem Mädchen aus den Hüttensiedlungen, das die Magier höchstwahrscheinlich hasste, bestand ein großer Unterschied.
Eines jedoch war sicher: Wenn die Kleine erst gefunden war, würde das Leben ungemein interessant werden.
9
Ein unwillkommener Besucher
Ein kühler Wind peitschte den Regen auf und schlug seine feuchten Finger in die Winterkleidung. Cery hüllte sich fester in seinen Langmantel und zog sich tiefer in die Falten seines Schals zurück. Als der Regen ihm ins Gesicht klatschte, schnitt er eine Grimasse, dann bot er dem Wind entschlossen die Stirn.
In dem Bolhaus bei Harrin hatte verführerische Wärme geherrscht. Donias Vater war in großzügiger Laune gewesen, aber nicht einmal der kostenlose Bol hatte Cery zum Bleiben verlocken können – nicht, nachdem Faren ihm endlich gestattet hatte, Sonea zu besuchen.
Cery brummte verdrossen, als sich ein hochgewachsener Mann an ihm vorbeidrängte. Mit finsterem Blick sah er dem Fremden nach, als der Mann die Straße hinuntereilte. Ein Händler, vermutete Cery, denn der Regen glitzerte auf nagelneuen Stiefeln und einem ebenso neuen Mantel. Er murmelte eine Schmähung und trottete weiter.
Als Cery von seinem Besuch bei den Räubern zurückgekehrt war, hatte sich Faren über sein Vorgehen genau Bericht erstatten lassen. Der Dieb hatte nur zugehört und dabei weder Lob noch Missbilligung geäußert, bevor er schließlich nickte.
Er stellt mich auf die Probe, um herauszufinden, wie nützlich ich ihm sein kann, überlegte Cery. Er will wissen, wo meine Grenzen liegen. Ich frage mich, was er als Nächstes von mir verlangen wird.