Er sah sich auf der Straße um. Einige Hüttenleute hasteten durch den Regen. Daran war nichts weiter ungewöhnlich. Der Händler, der ihn angerempelt hatte, war einige Schritte entfernt ohne erkennbaren Grund vor einem Gebäude stehen geblieben.
Langsam schlenderte Cery weiter und blickte kurz zu dem Händler auf, als er an ihm vorbeikam. Der Fremde hatte die Augen geschlossen und runzelte die Stirn, als konzentriere er sich angestrengt. Cery zog sich in die nächste Gasse zurück und drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, dass der Mann den Kopf hochriss und den Blick auf die Straße heftete.
Nein, dachte Cery, und ein Zittern überlief ihn. Er sieht nicht auf die Straße, sondern auf etwas, das darunter liegt. Jetzt betrachtete er die Kleidung des Kaufmanns eingehender. Die Schuhe des Mannes waren ebenso vertraut wie ungewöhnlich. In dem fahlen Licht glänzte ein kleines Symbol auf…
Cerys Herz setzte einen Schlag aus. Dann drehte er sich um und begann zu rennen.
Im Regen konnte Rothen nur die Umrisse eines hochgewachsenen Mannes an der gegenüberliegenden Straßenecke erkennen.
-Wir sind ganz in ihrer Nähe, sandte Dannyl. Sie ist irgendwo unter diesen Häusern.
-Dann brauchen wir nur noch einen Weg hinein zu finden, antwortete Rothen.
Es war ein quälend mühsamer Tag gewesen. Bisweilen hatte das Mädchen mehrmals hintereinander Magie benutzt, und sie hatten gute Fortschritte gemacht. Dann wieder mussten sie stundenlang warten, bis sie einen einzigen Versuch unternahm und dann wieder aufhörte.
Rothen hatte schnell gemerkt, dass sein Umhang zwar seine Roben verbarg, dass er darin aber für die Hütten immer noch zu gut gekleidet war. Nach einer Weile hatte er die meisten seiner Kollegen weggeschickt, weil sie zu viel Aufmerksamkeit erregten, wenn sie sich in größerer Zahl an ein und demselben Ort aufhielten.
Ein Summen am Rande seiner Wahrnehmung riss ihn aus seinen Gedanken, und er konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Dannyl zog sich von seinem Posten zurück und trat in eine Gasse. Nachdem Rothen hastig Kontakt zu den anderen Suchern aufgenommen hatte, kam er zu dem Schluss, dass das Mädchen irgendwo unter dem Haus zu seiner Linken sein müsse.
-Ich glaube, ich habe einen Eingang zu den Tunneln gefunden, sagte Dannyl in Rothens Gedanken. Ein Belüftungsgitter in der Mauer, ähnlich denen, die wir schon früher gesehen haben.
-Näher werden wir nicht an sie herankommen, ohne uns zu verraten, ließ Rothen die anderen Sucher wissen. Wir sollten nicht länger warten. Makin und ich behalten den Vordereingang im Auge. Kiano und Yaldih, ihr beobachtet die Hintertür. Dannyl und Jolen werden in den Geheimgang eindringen.
Als alle anderen ihre Positionen bezogen hatten, gab Rothen Dannyl und Jolen das Zeichen, jetzt das ihre zu tun. Dannyl öffnete das Gitter und sandte seinen Kollegen die Bilder, die er sah.
Dann stieg er durch die Öffnung und ließ sich auf den Boden des Tunnels fallen. Er schuf eine Lichtkugel und wartete, bis Lord Jolen ihm gefolgt war. Die beiden Männer trennten sich und verschwanden zu beiden Seiten des dunklen Korridors.
Nach etwa hundert Schritten blieb Dannyl stehen und sandte sein Licht voraus. Es bewegte sich einige Meter durch den Gang, bevor es an eine Wegbiegung kam.
-Ich glaube, dieser Tunnel verläuft unterhalb der Straße. Ich kehre um.
Einen Moment später sandte Lord Jolen das Bild einer schmalen, abwärts führenden Treppe. Er ging die Stufen hinunter und blieb jäh stehen, als ein Mann vor ihn hintrat. Der Neuankömmling starrte Jolens Lichtkugel an, dann drehte er sich um und flüchtete in einen Nebenkorridor.
-Man hat uns entdeckt, warnte Jolen die anderen.
-Geht weiter, antwortete Rothen.
Dannyl schickte jetzt keine Bilder mehr, so dass Rothen Jolens Weg verfolgen konnte. Als er auf der untersten Treppenstufe angekommen war, schritt Jolen einen schmalen Gang entlang. Schließlich erreichte er eine Wegbiegung, und Staub, Lärm und das Gefühl von Furcht überfluteten Rothens Sinne. Dann war da nur noch Verwirrung, als alle Magier gleichzeitig Fragen schickten.
-Sie haben den Korridor zum Einsturz gebracht. Jolen sandte das Bild einer Mauer aus Schutt und Trümmern. Dannyl war hinter mir.
Ein Stich der Angst durchzuckte Rothen. Dannyl?
Stille folgte, dann erklang eine schwache Gedankenstimme.
-Begraben. Warte… Ich bin frei. Nichts passiert. Geht weiter, Jolen. Sie wollten uns offensichtlich daran hindern, die Gänge von hier aus weiter zu erkunden. Geht weiter und findet sie.
-Geht, wiederholte Rothen. Jolen wandte sich von den Trümmern ab und eilte weiter.
Eine Glocke erklang. Sonea blickte von der Feuerstelle auf und erhob sich. Ein Paneel in der Mauer glitt zurück, und Faren trat hindurch. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und seine verblüffenden Augen glänzten, so dass er Ähnlichkeit mit einem gefährlichen Insekt hatte. Er lächelte sie an, dann reichte er ihr ein Päckchen, das in Stoff eingewickelt war und von einer Schnur zusammengehalten wurde.
»Das ist für dich.«
Sie drehte das Päckchen in den Händen. »Was ist das?«
»Mach es auf«, drängte Faren sie und ließ sich auf einen der Sessel sinken.
Sonea nahm ihm gegenüber Platz und zog das Band auf. Unter dem Stoff kam ein altes Buch mit ledernem Einband zum Vorschein. Etliche Blätter hatten sich aus der Bindung gelöst. Sonea sah Faren fragend an. »Ein altes Buch?«
Er nickte. »Sieh dir den Titel an.«
Sonea betrachtete den Einband, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich kann nicht lesen.«
Faren blinzelte überrascht. »Natürlich.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, das hätte mir klar sein müssen. Es ist ein Buch über Magie. Ich habe meine Leute zu sämtlichen Pfandleihern und Hehlern geschickt, um nach etwas Derartigem zu suchen. Anscheinend verbrennen die Magier ihre alten Bücher, aber dem Ladenbesitzer zufolge ist dieses Buch von einem unternehmungslustigen, ungehorsamen Diener verkauft worden. Sieh hinein.«
Sonea schlug den Einband auf und entdeckte ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie bemerkte sofort, dass es sich um dickes Pergament handelte. Pergament von solcher Qualität kostete im Allgemeinen mehr als eine Mahlzeit für eine große Familie. Sie faltete das Blatt auseinander und besah sich die schwarzen Buchstaben, die sich in makellosen Reihen über die Seite zogen, dann sog sie plötzlich scharf die Luft ein. Sie hatte das Symbol entdeckt, das in eine Ecke des Blattes gestempelt worden war. Ein Diamant mit einem »Y«, das ihn teilte – das Symbol der Gilde.
»Was ist das?«, flüsterte sie.
»Eine Nachricht«, antwortete Faren. »Für dich.«
»Für mich?« Sie blickte zu ihm auf.
Er nickte.
»Woher wussten sie, dass dieses Buch den Weg zu mir finden würde?«
»Sie wussten es nicht, aber sie haben es jemandem gegeben, von dem sie wussten, dass er in Verbindung zu den Dieben steht, und dieser Jemand hat das Schreiben weitergeleitet.«
Sie hielt ihm das Pergament hin.
»Was steht dort?«
Er nahm das Papier von ihr entgegen. »Hier steht: ›An die junge Lady mit magischen Kräften. Da wir nicht persönlich mit dir sprechen können, schicken wir dir diese Nachricht über die Diebe, in der Hoffnung, dass es ihnen möglich sein wird, dich zu erreichen. Wir möchten dir versichern, dass wir nicht die Absicht haben, dir in irgendeiner Weise zu schaden. Außerdem möchten wir betonen, dass wir am Tag der Säuberung nicht die Absicht hatten, dich oder den jungen Mann zu verletzen. Sein Tod war ein tragischer Unfall. Wir haben einzig und allein den Wunsch, dich zu lehren, wie du deine Kräfte beherrschen kannst. Außerdem möchten wir dir die Möglichkeit anbieten, dich der Gilde anzuschließen. Wir würden dich gern in unserer Mitte willkommen heißen.‹ Dann kommt die Unterschrift: ›Lord Rothen von der Magiergilde‹.«