Sonea starrte die Botschaft ungläubig an. Die Gilde wollte sie, ein Mädchen aus den Hütten, aufnehmen?
Es musste ein Trick sein, überlegte sie, ein Versuch, sie aus ihrem Versteck zu locken. Sie musste an den Magier denken, der die Zuflucht auf dem Dachboden überfallen hatte, und daran, dass er sie als Feindin der Gilde bezeichnet hatte. Er hatte nicht gewusst, dass sie zuhörte. Und seine Worte entsprachen vermutlich eher der Wahrheit als das Schreiben dieses unbekannten Mannes.
Faren faltete das Pergament zusammen und schob es in seine Tasche. Als Sonea sein gerissenes Lächeln sah, regte sich leichter Argwohn in ihr. Woher sollte sie wissen, ob auf dem Pergament wirklich das stand, was er ihr vorgelesen hatte?
Aber warum sollte er sich so etwas ausdenken? Er wollte, dass sie für ihn arbeitete, nicht dass sie zu den Magiern überlief. Es sei denn, er stellte sie auf die Probe …
Der Dieb zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was hältst du davon, kleine Sonea?«
»Ich glaube den Magiern nicht.«
»Warum nicht?«
»Sie würden niemals jemanden aus den Hütten bei sich aufnehmen.«
Faren strich mit der Hand über die Armlehne seines Stuhls. »Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass sie dich tatsächlich in der Gilde aufnehmen wollen? Viele gewöhnliche Menschen träumen davon, Magier zu werden. Vielleicht hat die Gilde den Wunsch, sich in den Augen der Öffentlichkeit reinzuwaschen.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Es ist ein Trick. Das Versehen war, dass sie den Falschen erwischt haben, nicht dass sie einen von uns getötet haben.«
Faren nickte langsam. »Das sagen die meisten Zeugen. Nun, wir werden die Einladung der Gilde ausschlagen und uns jetzt wichtigeren Angelegenheiten zuwenden.« Er zeigte auf das Buch in ihrem Schoß. »Ich weiß nicht, ob du etwas Nützliches daraus lernen kannst. Ich werde dir jemanden schicken, der es dir vorliest. Allerdings wäre es vielleicht sinnvoll, wenn du selbst lesen lernen würdest.«
»Meine Tante hat mir ein paar Buchstaben beigebracht«, erklärte Sonea, während sie in den Seiten blätterte. »Aber das ist schon lange her.« Sie blickte auf. »Kann ich Jonna und Ranel bald sehen? Jonna könnte mir bestimmt das Lesen beibringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht bevor die Magier aufhören –« Er legte die Stirn in Falten und lauschte. Ein leises Klingeln drang an ihre Ohren.
»Was ist das?«
Faren stand auf. »Warte hier«, sagte er und verschwand in der Dunkelheit hinter dem Paneel.
Sonea legte das Buch beiseite und trat vor die Feuerstelle. Wenige Augenblicke später stand Faren wieder im Raum.
»Schnell«, zischte er, »folge mir – und sprich kein Wort.«
Er ging an ihr vorbei, und einen Herzschlag lang starrte Sonea ihn nur an, bevor sie ihm durch den Raum folgte.
Faren zog einen kleinen Gegenstand aus einer Tasche und strich damit über die Wandvertäfelung. Als Sonea näher kam, sah sie, dass sich eine Verdickung im Holz vorschob, bis sie um die Länge eines halben Fingers in den Raum hineinragte. Faren griff nach dem kleinen Holzknauf und zog daran.
Ein Teil der Wand schwang nach innen. Faren griff nach Soneas Arm und zog sie in die Dunkelheit hinein. Nachdem er den Knauf wieder in das Paneel gedrückt hatte, schloss er die Tür hinter sich.
Vollkommene Finsternis umgab sie. Als Soneas Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass die Tür in Schulterhöhe fünf winzige, nebeneinander liegende Löcher aufwies. Durch eines dieser Löcher spähte Faren jetzt.
»Es gibt schnellere Methoden, den Raum zu verlassen«, erklärte er ihr, »aber da wir noch genug Zeit hatten, hielt ich es für besser, die Tür zu wählen, die zu öffnen fast unmöglich ist. Sieh es dir an.«
Er rückte von dem Guckloch weg. Sonea blinzelte; eine Flamme erhellte plötzlich die Dunkelheit. Faren hob eine kleine Lampe und legte die Blende vor, bis nur noch ein winziger Lichtstrahl den Korridor erhellte. Im Schein der Lampe machte er sie auf mehrere metallene Riegel und einige kompliziert aussehende Vorrichtungen auf der Rückseite der Tür aufmerksam.
»Also, was ist passiert?«, fragte sie.
Farens gelbe Augen funkelten in dem fahlen Licht, als er die Riegel vorlegte. »Inzwischen sucht nur noch eine Hand voll Magier nach dir. Meine Spione wissen jetzt, wie sie aussehen, sie kennen ihre Namen und die Art, wie sie vorgehen.« Faren kicherte. »Wir haben ihnen falsche Informationen zugespielt, damit sie etwas zu tun hatten. Heute haben sie sich dann plötzlich ziemlich seltsam benommen. Sie sind in größerer Zahl in den Siedlungen erschienen als normalerweise, und sie trugen Umhänge über ihren Roben. Sie haben überall Position bezogen, und es sah so aus, als warteten sie auf etwas. Ich weiß nicht, worauf, aber sie haben immer wieder den Standort gewechselt. Und jedes Mal, wenn sie das taten, sind sie diesem Haus ein wenig näher gekommen. Und gerade eben hat Ceryni mir gesagt, er glaube, die Magier seien dir auf die Spur gekommen. Seiner Meinung nach sind sie offensichtlich in der Lage, zu spüren, dass du Magie benutzt. Ich habe ihm nicht geglaubt, bis –«
Faren hielt inne, dann erlosch der dünne Lichtstrahl seiner Lampe plötzlich, und Dunkelheit erfüllte den Korridor. Sonea hörte, wie der Dieb sich zur Mauer hin zurückzog. Sie trat vorsichtig vor und drückte ein Auge auf eins der kleinen Löcher.
Die Tür zum Raum stand offen. Zuerst glaubte Sonea, das Versteck sei leer, dann trat plötzlich eine Gestalt aus einem der Nebenzimmer, und sie sah eine wallende, grüne Robe.
»Es ist meinen Leuten gelungen, die Magier aufzuhalten, indem sie den Gang zum Einsturz gebracht haben«, flüsterte Faren, »aber einer von ihnen ist trotzdem durchgekommen. Hab keine Angst. Niemand schafft es durch diese Tür. Sie ist…« Er sog leise die Luft ein. Sonea blickte abermals durch das Loch und spürte, wie ihr Herz aussetzte. Der Magier schien ihr direkt ins Gesicht zu starren.
»Kann er uns hören?«, murmelte Faren. »Ich habe die Mauer viele Male erprobt.«
»Vielleicht kann er die Tür sehen«, sagte Sonea.
»Nein, dazu müsste er sie sehr genau untersuchen. Selbst wenn er tatsächlich nach Türen Ausschau hielte, es gibt fünf Ausgänge aus dem Raum. Warum sollte er sich gerade für diesen hier entscheiden?«
Der Magier kam auf sie zu und blieb dann stehen. Er starrte das Holz an und schloss die Augen. Sonea nahm ein allzu vertrautes Gefühl wahr, das über sie hinwegstrich. Als der Magier die Augen wieder öffnete, hatte seine Miene sich entspannt, und er sah direkt zu Faren hinüber.
»Woher weiß er es?«, zischte Faren. »Benutzt du gerade Magie?«
»Nein«, antwortete Sonea, erstaunt über die Zuversicht in ihrer Stimme. »Ich kann mich vor ihm verstecken. Du bist es. Er spürt dich.«
»Mich?« Faren wandte sich von dem Loch ab und sah Sonea forschend ins Gesicht.
Sonea zuckte die Achseln. »Frag mich nicht, warum.«
»Kannst du mich verstecken?« Farens Stimme klang beunruhigt. »Kannst du uns beide verstecken?«
Sonea trat einen Schritt von der Tür zurück. Konnte sie das? Was immer der Magier wahrnahm, sie konnte es nicht verstecken, solange sie es nicht selbst gefunden hatte. Sie sah Faren an, dann sah sie Faren. Es war, als hätte sie ihre Sinne ausgestreckt – nein, sie benutzte irgendeinen Sinn, der weder von den Augen noch von den Ohren gesteuert wurde. Was es auch war, sie konnte plötzlich eine Person neben sich spüren.
Faren stieß einen leisen Fluch aus.
»Was immer du tust, hör auf damit!«, keuchte er. Etwas strich über die Mauer. Faren wich zurück. »Er versucht, die Tür zu öffnen«, erklärte er Sonea. »Ich hatte Angst, dass er auf die Idee kommen könnte, die Mauer zu sprengen. Das verschafft uns ein wenig Zeit.« Er öffnete die Blende der Lampe und bedeutete Sonea, ihm zu folgen.
Sie waren nur wenige Schritte gegangen, als ein Geräusch sie jäh innehalten ließ: Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Faren drehte sich um und fluchte. Dann hob er die Lampe, bis ihr Licht auf die Mauer fiel.