»Muss ich mich dafür rechtfertigen?«
Cery nahm seinen ganzen Mut zusammen. Mal sehen, wie weit ich gehen darf. »Ja.«
Faren stieß einen Laut der Erheiterung aus. »Also schön. Der Mann, mit dem du das Geschäft gemacht hast, heißt Verran. Er arbeitet von Zeit zu Zeit für einen anderen Dieb, aber bisweilen benutzt er die Dinge, die er bei dieser Arbeit erfährt, um nebenbei ein wenig Geld zu machen. Bis vor einigen Tagen hat der Dieb dieses Verhalten geduldet – bis Verran unaufgefordert in ein bestimmtes Haus eingedrungen ist. In das Haus eines reichen Kaufmanns, mit dem der Dieb ein Abkommen hat. Als Verran in das Haus eindrang, hielten sich die Tochter des Kaufmanns und einige Dienstboten dort auf.« Faren hielt inne, dann stieß er ein wütendes Zischen aus. »Der Dieb hat mir das Recht gegeben, Verran zu bestrafen. Selbst wenn das Mädchen überlebt hätte, wäre Verran jetzt ein toter Mann.« Faren richtete seine gelben Augen auf Cery. »Du wirst dich natürlich fragen, ob ich mir diese Geschichte nicht nur ausgedacht habe. Du musst dich entscheiden, ob du mir vertrauen willst oder nicht.«
Cery nickte, dann sah er zu dem Bordell hinüber. Wann immer er eine Entscheidung treffen musste, ohne sich sicher zu sein, dass er die Wahrheit kannte, verließ er sich auf seinen Instinkt. Und was sagte dieser Instinkt ihm jetzt?
Er dachte an den kalten, wilden Ausdruck in den Augen des Mannes und an die Furcht im Gesicht des dicken Mädchens. Ja, dieser Mann war fähig, Böses zu tun. Dann dachte er an die anderen Huren, an die Anspannung, die in der Luft gelegen hatte, an den Mangel an Kunden. Die beiden einzigen Männer in dem Lokal hatten mit dem Besitzer geredet. Waren die beiden Verrans Freunde? Irgendetwas ging in diesem Haus vor.
Und Faren? Cery erwog noch einmal alles, was er über den Mann in Erfahrung gebracht hatte. Er ahnte, dass der Dieb, wenn man ihn dazu trieb, gnadenlos sein konnte, aber in allen anderen Dingen hatte Faren sich stets gerecht und ehrlich gezeigt. Und als er von Verrans Verbrechen berichtet hatte, hatte unverhohlener Zorn in seiner Stimme gelegen.
»Ich habe noch nie zuvor einen Menschen getötet«, gestand Cery.
»Ich weiß.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun kann.«
»Du würdest es tun, wenn jemand Sonea bedrohte. Hab ich Recht?«
»Ja, aber dies hier ist etwas anderes.«
»Wirklich?«
Cery betrachtete den Dieb mit schmalen Augen.
Faren seufzte. »Nein, das war nicht ehrlich. So arbeite ich nicht. Ich stelle dich auf die Probe. Aber das weißt du sicher. Du brauchst diesen Mann nicht zu töten. Es kommt mir mehr darauf an, dass du lernst, mir zu vertrauen, und dass ich herausfinde, wo deine Grenzen liegen.«
Cerys Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte mit Prüfungen gerechnet. Aber Faren hatte ihm so viele verschiedene Aufgaben gestellt, dass Cery sich zu fragen begann, wonach der Dieb eigentlich suchte. Hatte er etwas Bestimmtes mit ihm im Sinn?
Vielleicht war dies eine Prüfung, der er Cery später noch einmal unterziehen würde, wenn er älter war. Wenn er außerstande oder nicht willens war, zu töten, würde er vielleicht sich selbst oder andere in Gefahr bringen, falls er tatsächlich einmal zu etwas Derartigem gezwungen wäre. Und falls diese andere Sonea wäre …
Plötzlich fiel alles Zögern und alle Unentschlossenheit von ihm ab.
Faren blickte seufzend zu dem Bordell hinüber. »Ich möchte diesen Mann wirklich tot sehen. Ich würde es selbst tun, nur… Ah, es spielt keine Rolle. Wir werden ihn irgendwann wiederfinden.« Er drehte sich um und ging einige Schritte die Gasse hinunter, blieb dann jedoch stehen, als ihm klar wurde, dass Cery ihm nicht gefolgt war.
»Cery?«
Cery griff in seinen Mantel und zog seine Dolche heraus. Farens Blick huschte zu den Klingen, die das schwache Licht aus den Fenstern des Bordells auffingen. Er machte einen Schritt zurück.
Cery lächelte. »Ich bin gleich wieder da.«
11
Sicheres Geleit
Nach einer halben Stunde wurde der Gestank des Bol beinahe angenehm. Es lag eine behagliche Wärme darin, die Trost versprach. Dannyl beäugte den Becher vor sich auf dem Tisch.
Da er sich nur allzu gut an die Geschichten über unsaubere Brauhäuser und Bolfässer, in denen ertrunkene Ravi schwammen, erinnerte, hatte er sich bisher nicht dazu durchringen können, von dem sirupartigen Getränk zu kosten. Heute Abend jedoch hatten ihn düsterere Ahnungen gequält. Wenn die Hüttenleute tatsächlich herausgefunden hatten, was er war, was würde sie dann daran hindern, Gift in seinen Becher zu geben?
Seine Befürchtungen waren wahrscheinlich unbegründet. Er hatte seine Roben einmal mehr gegen die Gewänder eines Kaufmanns vertauscht und sorgfältig darauf geachtet, sich ein leicht schäbiges Aussehen zu geben. Die anderen Kunden hatten ihm – oder vielmehr der Geldbörse an seiner Hüfte – nur einen abschätzenden Blick zugeworfen und ihn anschließend ignoriert.
Dennoch konnte Dannyl das Gefühl nicht abschütteln, dass jeder Mann und jede Frau in dem überfüllten Raum wussten, wer und was er war. Es waren allesamt mürrische Gesellen, gelangweilt und teilnahmslos. Sie hatten vor dem Unwetter draußen in dem Lokal Zuflucht gesucht und lungerten in jeder Ecke des Raumes herum. Manchmal hörte er sie das Wetter verfluchen, dann wieder schimpften sie auf die Gilde. Zu Anfang hatte ihr Gerede ihn erheitert. Offensichtlich hielten sie es für ungefährlicher, die Gilde für ihre Probleme verantwortlich zu machen als den König.
Einer der Gäste, ein Mann mit einem vernarbten Gesicht, starrte beständig zu Dannyl hinüber. Dannyl drückte die Schultern durch, dann sah er sich im Raum um. Als er sich wieder umdrehte, um dem Blick des aufdringlichen Mannes zu begegnen, entwickelte dieser ein plötzliches Interesse an der Machart seiner Handschuhe. Bevor Dannyl sich wieder seinem Trinkbecher zuwandte, fielen ihm noch die goldbraune Hautfarbe und das breite Gesicht des Mannes auf.
Er hatte in den Bolhäusern Männer und Frauen aller Rassen gesehen. Die kleinwüchsigen Elyner waren am zahlreichsten vertreten, da ihre Heimat Kyralias nächster Nachbar war. Die braunhäutigen Vindo fand man eher in den Hütten als in den übrigen Teilen der Stadt, da viele von ihnen auf der Suche nach Arbeit nach Imardin kamen. Die athletischen Lan, die in Stammesverbänden lebten, und die würdevollen Lonmar waren seltener.
Dies jedoch war der erste Sachakaner, den er seit Jahren gesehen hatte. Obwohl Sachaka direkt an Kyralia grenzte, vergällten die hohe Gebirgskette und die Wüste, die zwischen den beiden Ländern lagen, den Menschen die Lust am Reisen. Die wenigen Kaufleute, die die Strapazen des Weges auf sich nahmen, hatten Geschichten von barbarischen Völkern erzählt, die in der Wüste ums Überleben kämpften, und von einer verderbten Stadt, die einem Händler wenig Reizvolles zu bieten hatte.
Es war nicht immer so gewesen. Viele Jahrhunderte zuvor war Sachaka ein großes, von kultivierten Magiern beherrschtes Reich gewesen. Ein verlorener Krieg gegen Kyralia und die neu gebildete Gilde hatten dem ein Ende gemacht.
Plötzlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Als er sich umdrehte, stand ein dunkelhäutiger Mann hinter ihm. Der Mann schüttelte nur kurz den Kopf, dann ging er wieder.
Seufzend erhob sich Dannyl und bahnte sich einen Weg durch die Menge zur Tür hinüber. Draußen vor dem Haus trottete er durch die Pfützen, die den größten Teil der Straße bedeckten. Drei Wochen waren verstrichen, seit die Gilde das Mädchen in ihrem unterirdischen Versteck aufgespürt und der Lonmar Lord Jolen ausgetrickst hatte. Seitdem hatte Gorin Dannyls Bitte um ein Gespräch viermal abgelehnt.
Administrator Lorlen mochte nicht recht glauben, dass die Diebe das Mädchen beschützten. Dannyl verstand seine Beweggründe durchaus. Nichts beunruhigte einen König mehr als die Existenz eines wilden Magiers in seinem Reich. Die Diebe hingegen wurden geduldet. Sie hielten den kriminellen Untergrund in Schach, und die größte Gefahr, die von ihnen ausging, bestand im Verlust von Steuern durch ihre Schmuggelgeschäfte. Selbst wenn der König sie hätte finden und vertreiben können, wusste er doch, dass andere schnell ihren Platz einnehmen würden.