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Cery nickte. Vielleicht war es tatsächlich besser gewesen, dass sie fortgegangen war. Die Jungen in Harrins Bande benahmen sich nicht immer freundlich und anständig gegenüber den Mädchen, die ihnen begegneten.

»War die Arbeit in der Stadt besser?«

»Ein wenig. Man kann immer noch eine Menge Scherereien kriegen, wenn man nicht aufpasst. Am schlimmsten waren die Wachen, denn es hindert sie niemand daran, einen zu schikanieren.«

Stirnrunzelnd versuchte er sich vorzustellen, wie Sonea übermäßig interessierte Wachsoldaten abwehrte. Gab es denn nirgendwo Sicherheit für sie? Er wünschte, er hätte sie irgendwo hinbringen können, wo keine Wachen und keine Magier ihnen etwas anhaben konnten.

»Das Buch haben wir verloren, nicht wahr?«, sagte Sonea plötzlich.

Als er an den dicken Band dachte, der auf dem Tisch in dem Versteck zurückgeblieben war, fluchte Cery laut.

»Aber irgendwie war es ohnehin nicht von großem Nutzen.«

In ihrer Stimme schwang kein Bedauern mit. Cery dachte angestrengt nach. Es musste doch eine andere Möglichkeit für sie geben, die Magie zu erlernen. Dann erinnerte er sich wieder an die Idee, auf die sie ihn kurz zuvor gebracht hatte, und biss sich auf die Unterlippe.

»Ich würde dich gern aus den Hütten herausbringen«, sagte er. »Es wird hier heute Nacht von Magiern nur so wimmeln.«

Sie runzelte die Stirn. »Du willst mich aus den Hüttenvierteln fortbringen?«

»Ja«, erwiderte er. »In der Stadt wärst du sicherer.«

»In der Stadt? Glaubst du wirklich?«

»Warum nicht?« Er grinste. »Das ist der letzte Ort, an dem sie suchen würden.«

Sonea dachte darüber nach, dann hob sie die Schultern. »Aber wie sollen wir hineinkommen?«

»Über die Hohe Straße.«

»Sie wird uns nicht weiter als bis zu den Toren bringen.«

Cery lächelte. »Wir brauchen sie ja nicht zu benutzen. Komm mit.«

Die Äußere Stadtmauer ragte hoch über die Hüttenviertel hinaus. Zehn Schritte tief, wurde sie von der städtischen Garde zu jeder Zeit gut instand gehalten, obwohl viele Jahrhunderte vergangen waren, seit Imardin das letzte Mal durch eine Invasion bedroht worden war. Eine Straße verlief an der Außenseite und hielt die Hütten auf Abstand.

Nicht weit entfernt von dieser Straße stiegen Sonea und Cery von den Dächern hinunter in eine Gasse. Cery führte Sonea am Arm zwischen Stapeln von Kisten hindurch, die einen scharfen Geruch nach jungem Holz und alten Früchten verströmten. Dann trat er mitten in einen solchen Stapel hinein.

Cery ging in die Hocke und klopfte auf den Boden. Zu Soneas Überraschung klang das Geräusch metallisch und hohl. Der Boden bewegte sich, und eine runde Metallplatte wurde aufgestemmt. Ein breites Gesicht erschien darunter, umrahmt von einem Ring aus Dunkelheit. Die Luft um den Kopf herum verströmte einen Übelkeit erregenden Gestank.

»Hallo, Tul«, sagte Cery.

Zitternd verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem Grinsen.

»Wie geht’s denn so, Cery?«

Cery grinste ebenfalls. »Gut. Möchtest du eine Schuld abarbeiten?«

»Klar.« Die Augen des Mannes glänzten. »Sicheres Geleit?«

»Für zwei Personen«, sagte Cery.

Der Mann nickte und stieg wieder in die abgestandene Luft hinunter. Cery lächelte Sonea zu und zeigte auf das Loch.

»Nach dir.«

Sie schob einen Fuß in das Loch und stieß auf die oberste Sprosse einer Leiter. Dann sog sie ihre Lunge noch ein letztes Mal mit halbwegs frischer und sauberer Luft voll, bevor sie langsam in die schummrige Düsternis hinabstieg. Das Geräusch von fließendem Wasser hallte in der Dunkelheit wider, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit. Als ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, sah sie, dass sie auf einem schmalen Vorsprung neben einem unterirdischen Abwasserkanal stand. Die Decke war so niedrig, dass sie sich bücken musste.

Das dicke Gesicht des Mannes, mit dem sie gesprochen hatten, gehörte zu einem umfangreichen Körper. Cery bedankte sich und reichte dem Mann etwas, das ihm ein breites Lächeln ins Gesicht trieb.

Während er Tul an seinem Posten zurückließ, begleitete Cery Sonea durch den Tunnel in Richtung Stadt. Nach mehreren hundert Schritten kamen eine weitere Gestalt und eine Leiter in Sicht. Der Mann mochte früher einmal hochgewachsen gewesen sein, aber sein Rücken war gebeugt, als habe er sich in seinem Wachstum der Krümmung des Tunnels angepasst. Er blickte auf und beobachtete mit großen Augen, die von schweren Lidern überschattet wurden, wie Cery und Sonea sich näherten.

Dann drehte der Mann sich abrupt um, um hinter sich zu blicken. Irgendwo weiter entfernt im Tunnel erklang jetzt ein schwaches Klirren.

»Schnell«, flüsterte er ihnen rau zu. Cery packte Sonea am Arm und zerrte sie im Laufschritt hinter sich her.

Der Mann holte etwas unter seinem Mantel hervor und klopfte mit einem alten Löffel dagegen. Das Klirren klang in dem Tunnel ohrenbetäubend.

Als sie die Leiter erreichten, blieb er stehen, und sie hörten abermals diese schrillen Geräusche hinter sich. Der Mann stieß einen dumpfen Laut aus, dann begann er, mit den Armen zu rudern.

»Hinauf! Hinauf!«, schrie er.

Cery kletterte die Leiter empor. Sonea hörte ein metallisches Scheppern, dann erschien ein Quadrat aus Licht. Cery zwängte sich hindurch und verschwand. Als Sonea ihm folgte, erklang irgendwo im Tunnel hinter ihr abermals ein Geräusch, das sie nicht zu benennen wusste. Der Bucklige bildete das Schlusslicht und zog die Leiter nach oben.

Sonea sah sich um. Sie standen in einer schmalen Gasse, verborgen durch die hereinbrechende Dunkelheit. Als sie noch einmal das gleiche Geräusch aus dem Tunnel hörte, drehte sie sich um. Der Lärm wurde jetzt rasch lauter und verwandelte sich in ein tiefes Dröhnen, das plötzlich gedämpft wurde, als der Bucklige vorsichtig den Deckel über dem Tunnel schloss. Einen Moment später spürte sie eine schwache Vibration unter den Füßen. Cery beugte sich zu ihr hinüber, bis sein Mund über ihr Ohr strich.

»Die Diebe benutzen diese Tunnel seit Jahren, um die Äußere Stadtmauer zu überwinden«, murmelte er. »Als die Stadtwache dahinterkam, hat sie angefangen, die Rohre zu fluten. Keine schlechte Idee eigentlich – auf diese Weise bleiben die Tunnel sauber. Natürlich wussten die Diebe immer im Voraus, wann die Wache eingreifen würde, und alles ging so weiter wie bisher. Woraufhin die Soldaten sich angewöhnt haben, die Rohre in unregelmäßigen Abständen zu fluten.«

Er bedeutete ihr, neben dem Deckel in die Hocke zu gehen, dann hob er ihn vorsichtig an. Nur wenige Zoll von ihrem Gesicht entfernt strömte Wasser vorbei, und das Tosen wurde beinahe ohrenbetäubend. Im nächsten Moment hatte Cery den Deckel bereits wieder geschlossen.

»Deshalb läuten sie die Glocken«, flüsterte sie.

Cery nickte. »Eine Warnung.« Er wandte sich ab und drückte dem Buckligen etwas in die Hand, bevor er Sonea die Gasse hinunter zu einer dunklen Ecke führte. Aus dem Mauerwerk eines Hauses ragten genau auf der Ecke jeweils abwechselnd zu beiden Seiten die Steine etwas heraus, so dass sie darauf wie auf einer Trittleiter aufs Dach klettern konnten. Die Luft wurde langsam kälter, daher zog Sonea ihren Umhang hervor und legte ihn sich um die Schultern.

»Ich hatte gehofft, wir müssten nicht so weit gehen«, murmelte Cery, »aber…« Er zuckte die Achseln. »Schöne Aussicht von hier oben, wie?«

Sie nickte. Obwohl die Sonne bereits am Horizont versunken war, verströmte der Himmel immer noch ein warmes Leuchten. Die letzten Sturmwolken hingen über dem Südviertel, wanderten jetzt aber langsam gen Osten. Die Stadt breitete sich vor Sonea aus, eingehüllt in ein orangefarbenes Licht.