»Die Quartiere der Novizen«, erklärte Cery. »Wir befinden uns hinter dem Gebäude. Von hier aus kannst du hineinschauen.«
Durch eins der Fenster konnte sie einen Teil eines Raumes erkennen. An einer der Wände stand ein einfaches, stabiles Bett und gegenüber ein schmaler Tisch mit einem Stuhl davor. In der Nähe der Tür hingen an zwei Haken braune Roben.
»Nicht gerade der Inbegriff von Luxus.«
Cery nickte. »Die Quartiere sind alle so.«
»Aber die Magier sind doch reich, oder?«
»Ich vermute, dass sie sich erst nach dem Abschluss ihrer Ausbildung ihre eigenen Sachen aussuchen dürfen.«
»Wie sind denn die Quartiere der Magier?«
»Prächtig.« Seine Augen leuchteten. »Willst du sie sehen?«
Sonea nickte.
»Dann komm mit.«
Er ging tiefer in den Wald hinein und weiter hügelaufwärts. Als sie sich einmal mehr dem Waldrand näherten, stellte Sonea fest, dass jenseits der Universität mehrere Gebäude und ein großer, gepflasterter Innenhof lagen. Eins der Bauwerke schmiegte sich wie eine lange Treppe an den Hügel, und es schimmerte, als bestünde es zur Gänze aus geschmolzenem Glas. Ein anderes sah aus wie eine riesige Schale, glatt und weiß. Der gesamte Bereich wurde erhellt von zwei Reihen großer, runder Lampen, die auf hohen Eisenpfosten ruhten.
»Wozu dienen all diese Gebäude?«, wollte Sonea wissen.
Cery blieb stehen. »Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, in dem gläsernen befinden sich die Bäder. Die anderen…?« Er zuckte die Achseln. »Das konnte ich nicht in Erfahrung bringen.«
Er lief weiter durch den Wald. Als wieder Gebäude in Sicht kamen, hatten sie den Innenhof hinter sich gelassen und befanden sich bereits in der Nähe der Magierquartiere. Cery verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.
»Sie haben alle Blenden vor den Fenstern«, sagte er. »Hm, vielleicht sehen wir ja mehr, wenn wir um das Gebäude herumgehen.«
Wieder kehrten sie in den Schutz der Bäume zurück, und Sonea taten bereits die Beine weh. Obwohl der Wald hier dichter an das Gebäude heranreichte, konnte sie durch das offene Fenster, auf das Cery sie aufmerksam gemacht hatte, nur einen flüchtigen Blick auf einige Möbelstücke erhaschen. Inzwischen hatte ihre Müdigkeit die Oberhand über die Neugier gewonnen, und sie ließ sich zu Boden sinken.
»Ich weiß nicht, wie ich es zurück in die Hüttenviertel schaffen soll«, stöhnte sie. »Meine Beine weigern sich, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu machen.«
Cery hockte sich grinsend neben sie. »Du bist in den letzten Jahren wirklich ganz schön verweichlicht.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er kicherte und drehte sich wieder zu den Gebäuden um.
»Setz dich hin und ruh dich ein Weilchen aus«, sagte er, während er selbst wieder aufstand. »Ich möchte hier noch etwas erledigen. Es wird nicht lange dauern.«
Sonea zog die Brauen hoch. »Wohin gehst du?«
»Ich will näher heran. Mach dir keine Sorgen. Ich bin gleich wieder da.« Er wandte sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Zu müde, um sich über sein Verhalten zu ärgern, betrachtete Sonea den Wald. Zwischen den Baumstämmen konnte sie etwas Flaches, Graues ausmachen. Als ihr mit einem Mal klar wurde, dass sie sich keine vierzig Schritte von einem kleinen, zweistöckigen Gebäude entfernt befand, blinzelte sie überrascht. Sie stand auf, um sich näher an das Gebäude heranzuschleichen. Erstaunlich, dass Cery sie nicht darauf aufmerksam gemacht hatte, dachte sie. Vielleicht hatte er es nicht bemerkt. Es war aus einem anderen, dunkleren Stein errichtet als die übrigen Gebäude der Gilde, und im Schatten der Bäume war es beinahe unsichtbar.
Wie die Universität lag auch dieses Haus hinter einer Hecke verborgen. Nach einigen Schritten spürte Sonea den harten Stein eines gepflasterten Wegs unter den Füßen. Dunkle Fenster verlockten sie zum Weitergehen.
Sie drehte sich kurz um und überlegte, wie lange Cery wohl fort sein würde. Wenn sie nicht allzu viel Zeit vertrödelte, konnte sie einen Blick durch die Fenster werfen und wieder an ihrem Treffpunkt sein, bevor Cery zurückkehrte.
Also schlich sie sich weiter den Weg hinunter, trat hinter die Hecke und spähte durch das erste Fenster. Der Raum dahinter lag im Dunkeln, und sie konnte kaum etwas erkennen. Sie ging zum nächsten Fenster weiter, dann zum übernächsten, aber das Bild, das sich ihr bot, war überall das gleiche. Enttäuscht wandte sie sich zum Gehen und erstarrte jäh, als sie Schritte hinter sich hörte.
Mit einem Satz stand sie wieder hinter der Hecke und beobachtete einen Mann, der um das Gebäude herumging. Obwohl sie kaum mehr als eine Silhouette erkennen konnte, sah sie doch, dass der Mann keine Roben trug. Ein Diener?
Jetzt öffnete der Mann eine Tür. Als Sonea hörte, wie der Riegel hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie erleichtert auf. Sie wollte sich gerade vom Boden hochstemmen, als sie ganz in der Nähe ein leises Klirren hörte.
Sie sah sich um und entdeckte ein schmales Gitter, das direkt über dem Boden in die Mauer eingelassen war. Also ließ sie sich auf Hände und Knie fallen und beugte sich vor, um das Gitter in Augenschein zu nehmen. Der winzige Luftschacht war voller Dreck und Erde, aber dennoch konnte sie auf der anderen Seite eine Treppe ausmachen, die zu einer geöffneten Tür hinunterführte.
Jenseits der Tür lag ein Raum, der von einer unsichtbaren Lichtquelle in einen gelben Schein getaucht wurde. Dann erschien plötzlich ein Mann mit langen Haaren in einem schweren, schwarzen Umhang. Kräftige Schultern versperrten ihr für einen Moment die Sicht, als eine weitere Gestalt die Treppe hinunterging, die in den Raum mündete. Sonea bemerkte gerade noch, dass der Neuankömmling die Kleidung eines Dienstboten trug, bevor er sich ihrem Blick wieder entzog.
Sie hörte eine Stimme, konnte aber die Worte nicht verstehen.
Der Mann in dem Umhang nickte. »Es ist vollbracht«, sagte er, befingerte die Schließe und streifte sich den Umhang von den Schultern.
Sonea stockte der Atem, als sie sah, was darunter zum Vorschein kam. Der Mann trug die zerlumpten Kleider eines Bettlers.
Und sie waren voller Blutflecken.
Der Mann blickte an sich hinab, und ein Ausdruck von Ekel trat in seine Züge. »Hast du meine Roben mitgebracht?«
Der Diener murmelte eine Antwort. Sonea unterdrückte einen Aufschrei der Überraschung und des Entsetzens. Der Mann war ein Magier.
Er zog sich das blutbespritzte Hemd über den Kopf und entblößte dabei einen ledernen Gürtel, den er um die Taille trug. An dem Gürtel hing eine große Dolchscheide.
Im nächsten Moment nahm er den Gürtel ab und warf ihn mitsamt dem Hemd auf einen Tisch, dann zog er eine große Wasserschale und ein Handtuch zu sich heran. Der Magier tauchte das Handtuch ins Wasser und wusch sich mit geschickten Bewegungen die roten Flecken von seiner nackten Brust. Wann immer er das Handtuch ausspülte, färbte das Wasser sich ein wenig dunkler.
Dann konnte Sonea einen Arm sehen; der Diener hielt dem anderen Mann ein Bündel schwarzen Stoffs hin. Der Magier nahm es entgegen und verschwand kurz aus Soneas Blickfeld.
Sie lehnte sich ein wenig zurück. Schwarze Roben? Ein schwarzgewandeter Magier war ihr noch nie begegnet. Bei der Säuberung hatte keiner der Magier schwarz getragen. Die Position, die dieser Mann innerhalb der Gilde einnahm, musste einzigartig sein. Sie beugte sich wieder vor und betrachtete einmal mehr die blutbefleckten Kleider. Vielleicht war der Mann einer der gefürchteten Assassinen, ein fanatischer Mörder, der vor nichts zurückschreckte.
Dann kam der Magier wieder in Sicht. Er trug jetzt die schwarzen Roben und hatte sich das dunkle Haar gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er griff nach dem Gürtel und öffnete den Verschluss der Dolchscheide.
Sonea sog scharf die Luft ein. Der Griff des Dolches, der jetzt zum Vorschein kam, glitzerte im Licht. Die Juwelen, die darin eingelassen waren, funkelten rot und grün. Der Magier untersuchte die lange, gebogene Klinge und wischte sie dann sorgfältig an dem Handtuch ab. Anschließend wandte er sich dem Diener zu, der irgendwo außerhalb von Soneas Blickfeld stand.