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Nachdem es ihm gelungen war, eine weitere Seite zu lesen, blickte er auf. Dunkle Augen starrten ihn an.

Dann wanderte der Blick des Mädchens über seine Roben. Und im nächsten Moment versuchte sie auch schon, sich mit hektischen Bewegungen aus den Laken zu befreien. Als es ihr schließlich gelungen war, besah sie sich voller Entsetzen das Nachtgewand aus schwerer Baumwolle, das sie trug.

Rothen legte das Buch auf den Tisch neben dem Bett und stand auf, wobei er jede schnelle Bewegung vermied. Das Mädchen presste sich mit weit aufgerissenen Augen gegen die Wand. Rothen öffnete die Türen eines Schranks im hinteren Teil des Raums und nahm einen dicken Morgenmantel heraus.

»Hier«, sagte er und reichte ihr das Kleidungsstück. »Das ist für dich.«

Sie starrte das Gewand an, als sei es ein wildes Tier.

»Nimm nur«, drängte er sie und machte einen Schritt auf sie zu. »Du frierst bestimmt.«

Stirnrunzelnd riss sie ihm den Morgenmantel aus der Hand. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, schlüpfte sie in das Kleidungsstück und schlang es fest um ihren mageren Leib, bevor sie sich wieder an die Wand zurückzog.

»Ich heiße Rothen«, sagte er.

Keine Reaktion.

»Wir wollen dir nichts Böses, Sonea«, fuhr er fort. »Du hast nichts von uns zu befürchten.«

Ihre Augen wurden schmal, und ihr Mund verwandelte sich in eine dünne Linie.

»Du glaubst mir nicht.« Er zuckte die Achseln. »Ich an deiner Stelle täte das auch nicht. Hast du unseren Brief bekommen, Sonea?«

Ein Ausdruck der Verachtung legte sich über ihre Züge. Er widerstand dem Drang zu lächeln.

»Natürlich, das hast du uns auch nicht geglaubt, nicht wahr? Was hat die größten Zweifel in dir geweckt?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schaute aus dem Fenster und gab ihm immer noch keine Antwort. Er unterdrückte einen Anflug von Ärger. Widerstand, ja, sogar diese lächerliche Weigerung, auf Fragen zu antworten, waren zu erwarten gewesen.

»Sonea, wir müssen miteinander reden«, sagte er sanft. »Ob du willst oder nicht, du besitzt eine Macht, die du zu beherrschen lernen musst. Wenn du es nicht tust, wird diese Macht dich töten. Ich weiß, dass dir das klar ist.«

Sie zog die Brauen zusammen, blickte aber weiter nur aus dem Fenster. Rothen gestattete sich einen Seufzer.

»Welche Gründe deine Abneigung gegen uns auch haben mag, du musst begreifen, dass es töricht wäre, unsere Hilfe abzulehnen. Gestern haben wir nicht mehr getan, als die Kraft zu erschöpfen, die du in dir trägst. Es wird nicht lange dauern, bis diese Kräfte in dir abermals stark und gefährlich werden. Denk darüber nach.« Er hielt inne. »Aber lass dir nicht allzu viel Zeit dabei.«

Er wandte sich zur Tür um und streckte die Hand nach dem Griff aus.

»Was muss ich tun?«

Ihre Stimme klang hoch und schwach. Trotz des jähen Triumphgefühls, das in ihm aufstieg, gelang es ihm, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Er drehte sich wieder um, und sein Herz krampfte sich zusammen, als er die Angst in ihren Augen sah.

»Du musst lernen, mir zu vertrauen«, antwortete er.

Der Magier – Rothen – war zu seinem Stuhl zurückgekehrt. Soneas Herz hämmerte noch immer, wenn auch nicht mehr gar so schnell wie zuvor. In dem Morgenmantel fühlte sie sich jetzt ein klein wenig sicherer. Sie wusste, dass er keinen Schutz gegen Magie bot, aber immerhin verhüllte er das lächerliche Ding, das man ihr angezogen hatte.

Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht besonders groß. An der einen Wand stand ein hoher Schrank, an einer anderen das Bett und in der Mitte ein kleiner Tisch. Die Möbel waren aus teurem, poliertem Holz gemacht. Auf dem Tisch lagen kleine Kämme und Schreibutensilien aus Silber. An der Wand darüber hing ein Spiegel, und die Wand hinter dem Magier zierte ein Gemälde.

»Kontrolle ist etwas sehr schwer Fassbares«, erklärte Rothen. »Um es dir zu zeigen, muss ich in deinen Geist eindringen, aber das kann ich nicht tun, wenn du dich gegen mich wehrst.«

Sonea musste an die Novizen denken, die in einem Klassenzimmer gestanden hatten. Jeweils einer von ihnen hatte einem anderen die Hände auf die Schläfen gelegt. Die Erklärungen des Lehrers stimmten mit dem überein, was Rothen sagte. Sonea verspürte eine beklommene Befriedigung, weil sie wusste, dass dieser Magier die Wahrheit sagte. Kein Magier konnte unaufgefordert in ihren Geist eindringen.

Dann runzelte sie die Stirn, denn sie erinnerte sich plötzlich wieder an die Aura, die ihr die Quelle ihrer Magie gezeigt hatte und auch, wie sie sie benutzen musste.

»Gestern habt Ihr das aber getan.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe dich zu deiner eigenen Magie geführt und dir dann an meiner eigenen Magie demonstriert, wie du sie benutzen musst. Das ist etwas gänzlich anderes. Um dich zu lehren, wie du deine Magie kontrollieren kannst, muss ich an den Ort in dir vordringen, an dem deine Macht wohnt. Und um dorthin zu gelangen, muss ich in deinen Geist eindringen.«

Sonea wandte den Blick ab. Einen Magier in ihren Geist einlassen? Was würde er sehen? Würde er alles sehen oder nur die Dinge, die zu sehen sie ihm gestattete?

Hatte sie denn eine Wahl?

»Rede mit mir«, drängte der Magier sie. »Stell mir alle Fragen, die dich bewegen. Wenn du mehr über mich erfährst, wirst du feststellen, dass ich ein vertrauenswürdiger Mensch bin. Du brauchst nicht die ganze Gilde zu mögen, du brauchst nicht einmal mich zu mögen. Du musst mich nur gut genug kennen, um darauf zu vertrauen, dass ich dich lehren werde, was du wissen musst, und dir keinen Schaden zufügen will.«

Sonea sah ihn sich ein wenig genauer an. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt oder älter. Obwohl sich graue Strähnen durch sein dunkles Haar zogen, waren seine Augen blau und lebendig. Die Falten um Mund und Augen verliehen ihm einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Er wirkte wie ein freundlicher, väterlicher Mann – aber sie war keine Närrin. Betrüger sahen immer ehrlich und anziehend aus. Wenn es anders wäre, könnten sie sich nicht durchs Leben schlagen. Natürlich würde die Gilde dafür sorgen, dass sie zuerst ihren sympathischsten Magier kennen lernte.

Sonea schaute tiefer. Als sie in seine Augen sah, erwiderte er ihren Blick vollkommen ruhig. Seine gelassene Zuversicht verstörte sie. Entweder war er sich ganz sicher, dass sie nichts entdecken konnte, woran sie Anstoß nehmen würde, oder aber er glaubte, sie mit einer List dahin bringen zu können, genau diesen Eindruck zu gewinnen.

So oder so, vor ihm lag eine schwierige Aufgabe, soviel stand für Sonea fest.

»Warum sollte ich Euch irgendetwas glauben, was Ihr mir erzählt?«

Er hob die Schultern. »Warum sollte ich dich belügen?«

»Um zu bekommen, was Ihr haben wollt. Warum sonst?«

»Und was will ich haben?«

Sie zögerte. »Das weiß ich noch nicht.«

»Ich will dir lediglich helfen, Sonea.« Er klang aufrichtig besorgt.

»Ich glaube Euch nicht«, antwortete sie.

»Warum nicht?«

»Ihr seid ein Magier. Es heißt, Ihr hättet einen Schwur geleistet, die Menschen zu beschützen, aber ich habe euch töten sehen.«

Die Falten zwischen seinen Brauen vertieften sich, dann nickte er langsam. »Das hast du allerdings. Wie wir schon in unserem Brief an dich geschrieben haben, hatten wir nicht die Absicht, an jenem Tag irgendjemanden zu verletzen – weder dich noch den Jungen.« Er seufzte. »Es war ein schreckliches Versehen. Wenn ich gewusst hätte, was geschehen würde, hätte ich die anderen niemals auf dich aufmerksam gemacht. Es gibt viele Methoden, um Magie auszusenden, und die gebräuchlichste davon ist der ›Schlag‹. Der schwächste dieser Art ist der ›Betäubungsschlag‹, der dazu gedacht ist, einen Menschen zu lähmen; die Muskeln des Betroffenen erstarren, so dass er sich nicht mehr bewegen kann. Die Magier, die den Jungen angegriffen haben, haben alle den ›Betäubungsschlag‹ benutzt. Erinnerst du dich an die Farbe der Schläge?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht hingesehen.« Weil ich zu beschäftigt damit war, wegzulaufen, dachte sie, aber sie hatte nicht die Absicht, das laut auszusprechen.