Der Magier runzelte die Stirn. »Dann wirst du mir einfach glauben müssen, wenn ich sage, dass sie alle rot waren. Ein ›Betäubungsschlag‹ ist rot. Aber da so viele Magier gleichzeitig reagiert haben, haben sich einige der ›Schläge‹ zusammengefügt und sind zu einem stärkeren ›Feuerschlag‹ verschmolzen. Diese Magier hatten keinerlei Absicht, irgendjemandem Schaden zuzufügen, sie wollten den Jungen lediglich daran hindern, wegzulaufen. Ich versichere dir, dass unser Fehler uns großen Kummer bereitet und eine Menge Tadel vom König und von den Häusern eingetragen hat.«
Sonea rümpfte die Nase. »Als ob die sich für so etwas interessieren würden.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ah, sie interessieren sich sehr wohl dafür. Ich gebe zu, dass ihre Gründe eher mit dem Wunsch zusammenhängen, die Gilde unter Kontrolle zu halten, als mit Mitgefühl für den Jungen oder seine Familie, aber man hat uns sehr wohl für unseren Fehler zur Rechenschaft gezogen.«
»Wie?«
Er lächelte schief. »Protestbriefe. Öffentliche Ansprachen. Eine Verwarnung vom König. Das klingt nicht besonders beeindruckend, aber in der Welt der Politik sind Worte erheblich gefährlicher als Schlagstöcke oder Magie.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Die Magie ist Euer Geschäft. Sie ist das, worauf Ihr Euch angeblich am besten versteht. Ein einzelner Magier mag einen Fehler machen, aber nicht so viele von Euch gleichzeitig.«
Er breitete die Hände aus. »Glaubst du, wir verbrächten unsere Tage damit, uns darauf vorzubereiten, dass ein mittelloses Mädchen uns mit von Magie geleiteten Steinen angreifen könnte? Unsere Krieger werden in den kompliziertesten Manövern und Kriegsstrategien ausgebildet, aber keine Situation, wie sie in der Arena vorkommt, hätte sie auf einen Angriff durch ihre eigenen Leute vorbereiten können – Menschen, die sie für harmlos hielten.«
Sonea prustete laut. Harmlos. Sie sah, dass Rothen angesichts ihrer Reaktion die Lippen zusammenpresste. Wahrscheinlich findet er mich abstoßend, überlegte sie. Für die Magier waren die Hüttenleute schmutzig, hässlich und lästig. Hatten sie überhaupt eine Ahnung, wie sehr die Vorstadtbewohner sie hassten?
»Aber Ihr habt früher schon Dinge getan, die fast genauso schlimm waren«, entgegnete sie. »Ich habe Menschen mit Brandwunden gesehen, die Magier ihnen zugefügt hatten. Dann sind da noch jene, die zertrampelt werden, wenn Ihr die Menge so sehr in Panik versetzt, dass die Menschen in blinder Flucht davonlaufen. Die meisten jedoch erfrieren später in der Kälte der Hüttensiedlungen.« Sie musterte ihn mit schmalen Augen. »Aber Ihr begreift natürlich nicht, dass die Gilde auch daran die Schuld trägt, nicht wahr?«
»Es hat in der Vergangenheit Unfälle gegeben«, räumte er ein. »Magier, die unvorsichtig waren. Sofern es möglich war, hat man die Opfer später geheilt und entschädigt. Was die Säuberung selbst betrifft…« Er schüttelte den Kopf. »Viele von uns denken, dass diese Maßnahme nicht länger notwendig ist. Weißt du, wie und warum die Säuberungen eigentlich begonnen haben?«
Sie öffnete den Mund, um eine spitze Antwort zu geben, zögerte dann jedoch. Es konnte nicht schaden, zu erfahren, warum die Säuberungen seiner Meinung nach begonnen hatten. »Dann erzählt es mir.«
Ein geistesabwesender Ausdruck trat in Rothens Augen. »Vor über dreißig Jahren ist im hohen Norden ein Berg explodiert. Ruß erfüllte den Himmel und ließ das Licht der Sonne nicht mehr durchdringen. Der folgende Winter war so lang und kalt, dass wir keinen echten Sommer hatten, bevor der nächste Winter begann. Überall in Kyralia und Elyne verdarben die Ernten, und das Vieh starb. Hunderte, vielleicht Tausende von Bauern und ihre Familien strömten in die Stadt, aber es gab nicht genug Arbeit für sie alle und auch nicht genug Quartiere.
Die Stadt war voll von hungernden Menschen. Der König verteilte Nahrungsmittel und veranlasste, dass Orte wie die Rennbahn geräumt wurden, um den Menschen ein Obdach zu bieten. Er schickte einige der Bauern zurück auf ihre Höfe, versehen mit genug Nahrungsmitteln, um bis zum nächsten Sommer durchzukommen. Es gab allerdings nicht für jeden genug.
Wir erklärten den Menschen, dass der nächste Winter weniger hart werden würde, aber es gab viele, die uns nicht glaubten. Einige von ihnen dachten sogar, die Welt würde vollends zufrieren, und wir würden alle den Tod finden. Sie warfen jeden Anstand über Bord und überfielen andere, weil sie davon ausgingen, dass niemand am Leben bleiben würde, um sie zu bestrafen. Nach einer Weile waren die Straßen so unsicher, dass selbst bei hellem Tageslicht Gefahr drohte. Banden brachen in Häuser ein, und Menschen wurden in ihren Betten ermordet. Es war eine furchtbare Zeit.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Zeit, die ich niemals vergessen werde. Der König schickte damals die Garde aus, um die Banden aus der Stadt zu vertreiben. Als klar wurde, dass dieses Unterfangen nicht ohne Blutvergießen abgehen würde, bat er die Gilde um Hilfe. Der nächste Winter war ebenfalls hart, und als der König Anzeichen dafür entdeckte, dass sich ähnliche Probleme abermals ergeben würden, beschloss er, für Ordnung zu sorgen, bevor die Situation sich aufs Neue zuspitzte. Und so ist es seither in jedem Jahr gewesen.«
Rothen seufzte. »Viele sagen, die Säuberungen hätten schon vor Jahren eingestellt werden müssen, aber das Gedächtnis der Menschen ist lang, und die Hüttenviertel haben sich seit jenem Winter um ein Vielfaches vergrößert. Viele Menschen fürchten sich vor dem, was geschehen wird, wenn die Stadt nicht jeden Winter gesäubert wird, vor allem jetzt, da es die Diebe gibt. Sie befürchten, dass die Diebe eine solche Situation ausnützen würden, um die Kontrolle über die Stadt an sich zu reißen.«
»Das ist doch lächerlich!«, rief Sonea. Rothens Version der Geschichte war, wie vorauszusehen, einseitig, aber einige der Gründe, die er für die erste Säuberung genannt hatte, waren ihr neu. Explodierende Berge? Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Er würde sich einfach auf ihre Unwissenheit herausreden. Aber etwas wusste sie, das er nicht wusste.
»Es war gerade die Säuberung, die dazu geführt hat, dass die Diebe sich zusammenschlossen«, erklärte sie ihm. »Glaubt Ihr, all die Menschen, die Ihr damals vertrieben habt, waren Räuber und Bandenmitglieder? Ihr habt die hungernden Bauern und ihre Familien vertrieben und diejenigen, die wie die Bettler und Hausierer auf die Stadt angewiesen sind. Diese Menschen haben sich zusammengetan, um einander zu helfen. Sie haben überlebt, indem sie sich den Gesetzlosen anschlossen, denn sie sahen keinen Grund, sich noch länger nach den Gesetzen des Königs zu richten. Er hatte sie fortgejagt, als er ihnen eigentlich hätte helfen sollen.«
»Er hat so vielen Menschen wir nur möglich geholfen.«
»Aber nicht allen und nicht jetzt. Glaubt Ihr denn, dass er die Straßen von Räubern und Banden säubert? Nein, es sind gute Menschen, die von dem leben, was die Reichen wegwerfen, oder ein Gewerbe in der Stadt betreiben, aber in den Hütten leben. Die Gesetzlosen sind die Diebe – und die Diebe kümmert die Säuberung nicht im Geringsten, denn sie können die Stadt betreten und wieder verlassen, wann immer ihnen der Sinn danach steht.«
Rothen nickte langsam und mit nachdenklicher Miene. »Etwas Derartiges habe ich schon vermutet.« Er beugte sich vor. »Sonea, mir gefällt die Säuberung genauso wenig wie dir – und ich bin nicht der einzige Magier, der so denkt.«
»Aber warum tut Ihr es dann?«
»Weil wir, wenn der König etwas von uns verlangt, durch unseren Eid gebunden sind und ihm gehorchen müssen.«
Sonea schnaubte. »Also könnt Ihr dem König an allem, was Ihr tut, die Schuld geben.«
»Wir sind alle Untertanen des Königs«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Die Gilde muss ihm gehorchen, damit die Menschen nicht glauben, wir wollten selbst die Herrschaft über Kyralia an uns reißen.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wenn wir die skrupellosen Mörder sind, für die du uns hältst, warum haben wir das dann nicht schon vor langer Zeit getan, Sonea? Warum regieren dann nicht die Magier über das Land?«