Als sie sich abermals umsah, wurde ihr plötzlich bewusst, dass dies ein sehr eigenartiges Gefängnis war. Sie hatte eine kalte Zelle erwartet und keinen Luxus.
Vielleicht wollten die Magier sie ja wirklich auffordern, der Gilde beizutreten.
Sie blickte zu dem Spiegel auf und versuchte sich vorzustellen, eine Robe zu tragen. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper.
Nein, dachte sie, ich könnte niemals eine von ihnen sein. Damit würde ich alle verraten – meine Freunde, die Hüttenleute, mich selbst…
Aber sie musste lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren. Die Gefahr war durchaus real, und Rothen hatte wahrscheinlich die Absicht, ihr einige Dinge beizubringen – selbst wenn er damit nur verhindern wollte, dass sie in der Stadt weiteren Schaden anrichtete. Sie bezweifelte jedoch, dass er ihr mehr als das beibringen würde. Bei der Erinnerung an die vielen Enttäuschungen und das Grauen der letzten sechs Wochen schauderte sie. Ihre Kräfte hatten ihr schon genug Schwierigkeiten eingetragen. Gewiss wäre sie nicht enttäuscht, wenn sie sie nie wieder würde benutzen können.
Was würde dann aus ihr werden? Würde die Gilde ihr gestatten, zu den Hütten zurückzukehren? Unwahrscheinlich. Rothen behauptete, die Gilde wolle sie in ihre eigenen Reihen aufnehmen. Sie? Ein Mädchen aus den Hüttenvierteln? Auch das war unwahrscheinlich.
Aber warum machten sie ihr dann ein solches Angebot? Gab es noch irgendeinen anderen Grund dafür? Bestechung? Vielleicht versprachen sie ihr, sie in Magie zu unterweisen, wenn sie… was tat? Was könnte die Gilde von ihr wollen?
Und plötzlich kannte sie die Antwort.
Die Diebe.
Wenn sie entkam, wäre Faren dann immer noch bereit, sie zu verstecken? Ja – vor allem, wenn ihre Kräfte nicht länger gefährlich waren. Sobald sie Farens Vertrauen genoss, wäre es nicht weiter schwierig, gegen die Diebe zu arbeiten. Sie könnte ihre magischen Kräfte benutzen, um der Gilde Informationen über die kriminellen Gruppen in der Stadt zu schicken.
Sie schnaubte. Selbst wenn sie bereit gewesen wäre, mit der Gilde zusammenzuarbeiten, würden die Diebe schnell dahinterkommen. Keiner vom Hüttenvolk war dumm genug, die Diebe zu verpfeifen. Selbst wenn es ihr gelang, sich mit Magie zu schützen, würde sie die Diebe nicht daran hindern können, ihren Freunden und Verwandten etwas anzutun. Die Diebe waren gnadenlos, wenn man sich ihnen in den Weg stellte.
Aber hatte sie denn eine Wahl? Was, wenn die Gilde beschloss, sie zu töten, falls sie den Magiern nicht half? Was, wenn die Magier drohten, ihren Freunden und ihrer Familie Schaden zuzufügen? Mit wachsender Bestürzung überlegte sie, ob die Gilde wohl von Jonna und Ranel wusste.
Sie schob den Gedanken beiseite, denn sie fürchtete sich noch immer vor starken Gefühlen, die ihre Magie entfesseln könnten. Kopfschüttelnd wandte sie sich von dem Spiegel ab. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lag ein Buch. Sie durchquerte den Raum und griff danach.
Als sie die Seiten durchblätterte, stellte sie fest, dass sie in säuberlichen Reihen beschrieben waren. Sie schaute näher hin. Zu ihrer Überraschung konnte sie den größten Teil der Worte verstehen. Serins Lektionen hatten mehr bewirkt, als sie geglaubt hatte.
Bei dem Text schien es um Boote zu gehen. Nachdem sie einige Zeilen gelesen hatte, bemerkte Sonea, dass das letzte Wort in jeder zweiten Zeile mit dem gleichen Laut endete, genau wie in den gereimten Liedern, die die Straßenkünstler auf Märkten und in Bolhäusern sangen.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie erstarren. Als die Tür geöffnet wurde, legte Sonea das Buch hastig wieder auf den Tisch. Rothen stand vor ihr, ein in Tuch gehülltes Bündel unter dem Arm.
»Kannst du lesen?«
Sie überlegte, was sie antworten sollte. Gab es irgendwelche Gründe, ihre Fähigkeit vor ihm zu verbergen? Es fiel ihr kein Grund ein, und sie fand die Vorstellung äußerst befriedigend, ihn wissen zu lassen, dass nicht alle Hüttenleute ungebildet waren.
»Ein wenig«, erwiderte sie.
Er schloss die Tür und deutete auf das Buch. »Zeig es mir«, sagte er. »Lies mir etwas vor.«
Ein Hauch von Zweifel machte sich in ihr breit, aber dann überwand sie sich. Sie griff nach dem Buch, schlug es auf und begann zu lesen.
Nur um prompt zu bedauern, dass sie sich in diese Situation gebracht hatte. Unter dem Blick des Magiers fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Seite, die sie ausgewählt hatte, war schwieriger als die erste, und ihre Wangen wurden heiß, während sie sich durch unvertraute Worte haspelte.
Und dann verbesserte der Magier auch noch ihre Aussprache eines ihr unbekannten Wortes.
Verärgert über die Unterbrechung, schlug sie das Buch zu und warf es auf das Bett. Mit einem entschuldigenden Lächeln legte Rothen das Bündel daneben.
»Wie hast du lesen gelernt?«, wollte er wissen.
»Meine Tante hat es mir beigebracht.«
»Und du hast in letzter Zeit geübt.«
Sie wandte sich ab. »Es gab immer irgendetwas zu lesen. Straßenschilder, Etiketten, Plakate, die Belohnungen versprechen…«
Er lächelte. »In einem der Räume, in denen du gewohnt hast, haben wir ein Buch über Magie gefunden. Hast du irgendetwas davon verstanden?«
Ein Frösteln überlief sie, und sie hielt unwillkürlich den Atem an. Er würde ihr nicht glauben, wenn sie abstritt, das Buch gelesen zu haben, aber wenn sie es zugab, würde er nur weitere Fragen stellen, und sie könnte versehentlich preisgeben, welche anderen Bücher sie noch gelesen hatte. Falls er wusste, dass die Bücher, die Cery gestohlen hatte, verschwunden waren, musste er die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie sich heimlich bei Nacht in die Gilde geschlichen hatte, und dann würde er erst recht alles daransetzen, sie hier einzusperren.
Statt einer Antwort deutete sie nur mit dem Kopf auf das Stoffbündel auf dem Bett.
»Was ist das?«
Er sah sie kurz an, dann zuckte er die Achseln. »Kleider.«
Sonea beäugte das Bündel zweifelnd.
»Ich werde dir Zeit geben, dich umzuziehen, und dann meine Dienerin mit etwas zu essen hereinschicken.« Er wandte sich zur Tür.
Als er fort war, packte Sonea das Bündel aus. Zu ihrer Erleichterung hatte er ihr keine Magierroben mitgebracht. Stattdessen fand sie eine einfache Hose vor, Unterwäsche und ein Hemd mit hohem Kragen – ganz ähnliche Dinge, wie sie sie in den Hütten getragen hatte, aber aus weichen, teuren Stoffen gemacht.
Sie zog sich den Morgenmantel und das Nachtgewand aus und schlüpfte in die neuen Kleider. Obwohl sie jetzt schicklich angezogen war, fühlte sich ihre Haut immer noch seltsam nackt an. Als sie auf ihre Hände blickte, stellte sie fest, dass man ihr die Fingernägel geschnitten und gesäubert hatte. Sie schnupperte daran und roch den Duft von Seife.
Ein Schauer der Angst überfiel sie, gepaart mit Entrüstung. Irgendjemand hatte sie gewaschen, während sie geschlafen hatte. Sie starrte zur Tür hinüber. Rothen?
Nein, befand sie, solche Arbeiten überließen die Magier gewiss den Dienstboten. Sie strich sich mit den Fingern über den Kopf und stellte fest, dass man ihr auch die Haare gewaschen hatte.
Einige Minuten verstrichen, dann erklang abermals ein leises Klopfen an der Tür. Der Magier hatte ihr eine Dienerin hereinschicken wollen, und nun wartete Sonea darauf, dass die Fremde eintrat. Wieder klopfte es.
»Lady?«, rief eine Frau von der anderen Seite der Tür. »Darf ich eintreten?«
Erheitert setzte sich Sonea auf das Bett. Noch niemals hatte jemand sie »Lady« genannt.
»Wenn du willst«, antwortete sie.
Eine Frau von etwa dreißig Jahren kam herein. Sie trug einen schlichten, grauen Kittel und eine passende Hose, und in den Händen hielt sie ein zugedecktes Tablett.