Er war ein Magier. Eigentlich hätte sie diese Tatsache mehr erschrecken müssen, aber der Mann hatte ihr versprochen, dass er ihr nichts antun würde, und sie hatte den Entschluss gefasst, ihm zu glauben – für den Augenblick.
Es würde ihr jedoch nicht leicht fallen, ihn in ihren Geist einzulassen. Sie hatte keine Ahnung, ob er ihr auf diese Weise Schaden zufügen konnte. Was, wenn er Einfluss auf ihre Gedanken nehmen und sie dazu bringen konnte, die Gilde zu lieben?
Welche Wahl habe ich denn? Sie würde darauf vertrauen müssen, dass er ihren Geist nicht verbiegen konnte oder wollte. Es war ein Risiko, das sie eingehen musste, und das würde ihr nicht leichter fallen, wenn sie sich den Kopf darüber zerbrach.
Also straffte sie die Schultern und öffnete die Tür. Der Raum dahinter machte den Anschein, als verbrächte Rothen den größten Teil seiner Zeit dort. Um einen niedrigen Tisch in der Mitte waren zusammenpassende Sessel angeordnet. An den Wänden standen Bücherregale und höhere Tische. Rothen saß in einem der gepolsterten Sessel, und seine blauen Augen waren auf die Seiten eines Buches gerichtet.
Jetzt blickte er auf und lächelte. »Guten Morgen, Sonea.«
Die Dienerin trat an einen der Seitentische. Sonea ließ sich in dem Sessel Rothen gegenüber nieder. Sofort brachte die Dienerin ihnen ein Tablett an den Tisch und stellte eine Tasse vor Rothen und eine andere vor Sonea hin.
Rothen legte das Buch beiseite. »Das ist Tania«, sagte er und deutete auf die junge Frau. »Meine Dienerin.«
Sonea nickte. »Hallo, Tania.«
»Ich fühle mich geehrt, Euch kennen zu lernen, Lady«, antwortete die Frau mit einer Verbeugung.
Soneas Gesicht wurde heiß vor Verlegenheit, und sie wandte den Blick ab. Zu ihrer Erleichterung kehrte Tania zu dem Tisch zurück, auf dem das Essen stand.
Während sie die Frau beobachtete, wie sie einige kleine Kuchen auf einem Tablett arrangierte, fragte sich Sonea, ob sie sich durch die Unterwürfigkeit der Dienerin geschmeichelt fühlen sollte. Vielleicht hofften die Magier, dass sie Gefallen daran finden würde und dann eher bereit war, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Als die Frau Soneas Blick spürte, sah sie auf und lächelte nervös.
»Hast du gut geschlafen, Sonea?«, erkundigte sich Rothen.
Sonea zuckte die Achseln. »Ein wenig.«
»Möchtest du heute mit dem Unterricht im Lesen fortfahren?«
Sie betrachtete das Buch, das neben Rothen auf dem Tisch lag, und runzelte die Stirn, als sie feststellte, dass sie es bereits kannte.
Er folgte ihrem Blick. »Ah, Fiens Notizen über den Umgang mit Magie. Ich dachte, ich sollte mich darüber informieren, was du gelesen hast. Dies ist ein altes Geschichtsbuch, kein Lehrbuch, und das Wissen, das es vermittelt, könnte ein wenig veraltet sein. Vielleicht wirst du –«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Er erhob sich und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Da Sonea wusste, dass er sie mühelos an einer Flucht hindern konnte, musste seine Vorsicht andere Gründe haben. Offensichtlich wollte er nicht, dass sie den Besucher sah – oder war es umgekehrt, und der Besucher sollte sie nicht sehen?
»Ja? Lord Fergun. Was kann ich für Euch tun?«
»Ich möchte mit dem Mädchen sprechen.«
Die Stimme klang weich und kultiviert. Als Tania ihr eine Serviette auf den Schoß legte, zuckte Sonea zusammen. Die Dienerin sah stirnrunzelnd zu Rothen hinüber, bevor sie sich wieder zurückzog.
»Dafür ist es noch zu früh«, antwortete Rothen dem anderen Mann. »Sie ist…« Er zögerte, dann trat er durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Von der anderen Seite konnte Sonea jetzt nur noch das leise Murmeln von Stimmen hören.
Tania stellte ein Tablett mit süßem Kuchen vor sie hin. Sonea wählte einen davon aus und kostete versuchsweise von dem Getränk in ihrer Tasse.
Es schmeckte bitter, und sie verzog das Gesicht. Tania hob die Augenbrauen und deutete mit dem Kopf auf das Getränk in Soneas Hand.
»Ich schätze, das bedeutet, Ihr mögt keinen Sumi«, sagte sie. »Was kann ich Euch denn stattdessen anbieten?«
»Raka«, antwortete Sonea.
Die Dienerin sah sie bedauernd an. »Es tut mir Leid, aber wir haben hier keinen Raka. Darf ich Euch vielleicht ein wenig Pachi-Saft bringen?«
»Nein, danke.«
»Dann vielleicht Wasser?«
Sonea warf ihr einen ungläubigen Blick zu.
Tania lächelte. »Das Wasser hier ist sauber. Ich hole Euch welches.« Sie kehrte an den Tisch im hinteren Teil des Raums zurück, füllte ein Glas aus einem Krug und brachte es Sonea.
»Vielen Dank«, sagte Sonea. Sie hob das Glas und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass die Flüssigkeit vollkommen klar war. Sie konnte nicht einmal die winzigste Verunreinigung darin entdecken. Sie nahm einen Schluck und schmeckte nichts anderes als eine schwache Süße.
»Seht Ihr?«, sagte Tania. »Ich werde jetzt Euer Zimmer aufräumen. Wenn Ihr etwas brauchen solltet, zögert nicht, nach mir zu rufen.«
Sonea nickte und lauschte den sich entfernenden Schritten der Dienerin. Dann griff sie von neuem nach ihrem Glas, leerte es und wischte das Innere hastig mit der Serviette trocken. Anschließend ging sie leise zur Tür hinüber, drückte das Glas gegen das Holz und legte ihr Ohr daran.
»… sie dort festzuhalten. Es ist gefährlich.«
Die Stimme gehörte dem Fremden.
»Nicht solange sie nicht wieder bei Kräften ist«, erwiderte Rothen. »Sobald das passiert, werde ich ihr zeigen, wie sie ihre Magie ohne Risiko verausgaben kann, so wie wir es gestern getan haben. Dem Gebäude droht keine Gefahr.«
Es folgte eine Pause. »Trotzdem gibt es keinen Grund, sie zu isolieren.«
»Wie ich Euch bereits erklärt habe, ist sie leicht zu erschrecken, und sie ist sehr verwirrt. Sie kann jetzt keine Horde von Magiern gebrauchen, die ihr ein Dutzend verschiedene Erklärungen für ein und dieselbe Sache gibt.«
»Ich rede nicht von einer Horde, sondern nur von mir – und ich habe lediglich den Wunsch, ihre Bekanntschaft zu machen. Den Unterricht werde ich Euch überlassen. Daran ist doch gewiss nichts auszusetzen?«
»Ich verstehe, aber dafür wird später noch genug Zeit sein, wenn sie ein wenig Zutrauen gewonnen hat.«
»Es gibt kein Gesetz der Gilde, das Euch gestattet, sie von mir fern zu halten, Rothen«, entgegnete der Fremde, in dessen Stimme sich jetzt ein warnender Unterton eingeschlichen hatte.
»Nein, aber ich denke, die meisten unserer Kollegen würden meine Beweggründe verstehen.«
Der Fremde seufzte. »Mir liegt das Wohlergehen des Mädchens genauso am Herzen wie Euch, Rothen, und ich habe genauso lange und konzentriert nach ihr gesucht wie Ihr. Ich denke, viele unserer Kollegen würden mir zustimmen, wenn ich sage, dass ich mir in dieser Angelegenheit ein Mitspracherecht verdient habe.«
»Ihr werdet Eure Chance haben, sie kennen zu lernen, Fergun«, erwiderte Rothen.
»Wann?«
»Wenn sie so weit ist.«
»Und Ihr seid der Einzige, der das entscheidet.«
»Für den Augenblick, ja.«
»Das werden wir ja sehen.«
Stille folgte, dann wurde der Türgriff gedreht. Sonea lief zu ihrem Platz zurück und legte sich die Serviette wieder auf den Schoß. Als Rothen hereinkam, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und Freundlichkeit trat an die Stelle von Verärgerung.
»Wer war das?«, erkundigte sich Sonea.
Rothen zuckte die Achseln. »Nur jemand, der wissen wollte, wie es dir geht.«
Sonea nickte, dann beugte sie sich vor, um sich noch einen der süßen Kuchen zu nehmen.
»Warum verbeugt Tania sich vor mir und nennt mich Lady?«
»Oh.« Rothen ließ sich in seinen Sessel fallen und griff nach der Tasse mit der bitteren Flüssigkeit, die Tania ihm hingestellt hatte. »Alle Magier werden mit Lord oder Lady angesprochen.« Er machte eine wegwerfende Geste mit der freien Hand. »So ist es immer schon gewesen.«
»Aber ich bin keine Magierin«, entgegnete Sonea.