»Nun, Tania ist ein wenig voreilig.« Rothen kicherte.
»Ich glaube…« Sonea runzelte die Stirn. »Ich glaube, sie hat Angst vor mir.«
Er sah sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. »Sie ist nur ein klein wenig nervös in deiner Gegenwart. Es kann gefährlich sein, sich in der Nähe eines Magiers aufzuhalten, der seine Magie noch nicht zu beherrschen gelernt hat.« Er lächelte schief. »Anscheinend ist sie nicht die Einzige, die sich deswegen Sorgen macht. Da du die Gefahren besser kennst als die meisten anderen Menschen, kannst du dir vorstellen, mit welchen Gefühlen einige der Magier deine Anwesenheit in unserem Wohnheim betrachten. Du bist nicht die Einzige, die gestern Nacht schlecht geschlafen hat.«
Sonea dachte an die Umstände, unter denen sie gefangen genommen worden war, an die eingestürzten Mauern und die Trümmer, auf die sie nur einen kurzen Blick hatte werfen können, bevor sie ohnmächtig geworden war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Wie lange wird es dauern, bis Ihr mich die Kontrolle meiner Magie lehren könnt?«
Seine Miene wurde schlagartig ernst. »Das weiß ich nicht«, gestand er. »Aber zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Wenn deine Kräfte sich wieder zeigen, können wir sie auf die gleiche Art und Weise verbrauchen, wie wir es schon einmal getan haben.«
Sie nickte und betrachtete den Kuchen in ihrer Hand. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Mund erschien ihr plötzlich zu trocken für etwas so Süßes. Schluckend legte sie den Kuchen beiseite.
Der Morgen war neblig und trüb gewesen, und jetzt, am Nachmittag, hingen schwere Wolken tief und bedrohlich über der Stadt. Alles war in Schatten gehüllt, als sei der Abend zu ungeduldig gewesen, um auf das Ende des Tages zu warten. An Tagen wie diesen war das schwache Leuchten der inneren Mauern der Universität deutlicher wahrnehmbar als sonst.
Als sie in den Korridor der Universität einbogen, beschleunigte Dannyl sein Tempo. Rothen versuchte, mit ihm Schritt zu halten, gab den Versuch dann aber auf.
»Wie seltsam«, sagte er zu Dannyls Rücken. »Dein Hinken scheint verschwunden zu sein.«
Dannyl drehte sich um und blinzelte überrascht, als er sah, wie weit Rothen zurückgefallen war. Als er – langsamer – weiterging, kehrte das leichte Humpeln in seinen Schritt zurück.
»Ah, da ist es wieder.« Rothen nickte. »Warum die Eile, Dannyl?«
»Ich möchte es einfach hinter mich bringen.«
»Wir geben nur unsere Berichte ab«, erwiderte Rothen. »Wahrscheinlich werde ich den größten Teil des Redens übernehmen.«
»Ich war derjenige, den der Hohe Lord mit der Suche nach den Dieben betraut hat«, murmelte Dannyl. »Ich werde all seine Fragen beantworten müssen.«
»Er ist nur wenige Jahre älter als du, Dannyl. Dasselbe gilt für Lorlen, und er jagt dir keine panische Angst ein.«
Dannyl öffnete den Mund, um zu protestieren, dann schloss er ihn wieder und schüttelte den Kopf. Sie hatten das Ende des Korridors erreicht.
Als sie vor dem Büro des Administrators standen, lächelte Rothen, während Dannyl tief Luft holte. Auf Rothens Klopfen schwang die Tür nach innen, und ein großer, spärlich möblierter Raum wurde sichtbar. Über einem Schreibtisch am gegenüberliegenden Ende schwebte eine Lichtkugel, die die dunkelblauen Roben des Administrators beleuchtete.
Lorlen blickte auf und winkte die beiden Magier mit seiner Schreibfeder zu sich heran.
»Kommt herein, Lord Rothen, Lord Dannyl. Nehmt Platz.«
Rothen sah sich in dem Raum um. Keine schwarzgewandete Gestalt saß in einem der Sessel oder lauerte in den dunklen Ecken. Dannyl stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus.
Sie setzten sich auf zwei Stühle vor Lorlens Schreibtisch. Lorlen beugte sich vor und nahm die Papiere entgegen, die Rothen ihm hinhielt. »Ich freue mich schon darauf, Eure Berichte zu lesen. Vor allem Lord Dannyls Aufzeichnungen werden gewiss faszinierend sein.«
Dannyl zuckte zusammen, sagte jedoch nichts.
»Der Hohe Lord lässt Euch seinen Glückwunsch ausrichten.« Lorlen blickte zwischen Rothen und Dannyl hin und her. »Und auch ich möchte Euch gratulieren.«
»Dann wollen wir unsererseits unseren Dank aussprechen«, erwiderte Rothen.
Lorlen nickte, dann lächelte er schief. »Vor allem ist Akkarin sehr froh darüber, dass es in Zukunft keine unbeholfenen, nächtlichen Experimente mit Magie mehr geben wird und er wieder ungestört schlafen kann.«
Dannyls Augen weiteten sich, und Rothen musste sich ein Grinsen verkneifen. »Ich schätze, es hat seine Nachteile, so scharfe Sinne zu besitzen.«
Er versuchte sich vorzustellen, wie der Hohe Lord des Nachts in seinen Wohnräumen auf und ab ging und das Mädchen aus dem Hüttenviertel verfluchte. Das Bild passte jedoch nicht recht zu dem gelassenen Anführer der Gilde. Er runzelte die Stirn. Wie groß würde Akkarins Interesse an Sonea jetzt, da sie gefunden war, noch sein?
»Administrator, glaubt Ihr, dass der Hohe Lord Sonea wird sehen wollen?«
Lorlen schüttelte den Kopf. »Nein. Seine Hauptsorge bestand darin, dass wir sie vielleicht nicht finden würden, bevor ihre Kräfte zerstörerisch werden – und der König zweifelte langsam, ob wir wirklich in der Lage sind, unseresgleichen unter Kontrolle zu halten.« Er bedachte Rothen mit einem Lächeln. »Ich denke, ich verstehe, warum Ihr fragt. Akkarin kann ziemlich einschüchternd sein, vor allem für die jüngeren Novizen, und Sonea ist gewiss leicht zu erschrecken.«
»Das bringt mich zu einem anderen Punkt«, sagte Rothen und beugte sich vor. »Sie ist tatsächlich leicht zu erschrecken, und sie begegnet uns mit großem Argwohn. Sie wird einige Zeit brauchen, um ihre Angst zu überwinden. Ich würde sie gern isoliert halten, bis sie ein wenig Zutrauen gefasst hat, bevor ich sie nach und nach mit den Mitgliedern der Gilde bekannt mache.«
»Das klingt vernünftig.«
»Fergun hat heute Morgen verlangt, sie zu sehen.«
»Ah.« Lorlen nickte und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Mmm. Ich kann mir all die Argumente gut vorstellen, die er ins Feld führen wird, um seinen Willen durchzusetzen. Ich könnte verfügen, dass niemand sie sehen darf, bevor sie bereit ist, aber ich glaube nicht, dass Fergun Ruhe geben wird, bevor ich klar definiere, was der Ausdruck ›bereit‹ bedeutet, und ein Datum festgesetzt habe.«
Er erhob sich und begann, hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Auch die Tatsache, dass zwei Magier zu ihrem Mentor ernannt werden wollen, kompliziert die Dinge. Die Kollegen akzeptieren, dass Ihr dem Mädchen Kontrolle beibringt, da Ihr über große Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt. Aber wenn ich Fergun von Soneas früher Ausbildung ausschließe, verbessern sich dadurch Ferguns Chancen, zu ihrem Mentor bestimmt zu werden, weil eine solche Benachteiligung ihm Sympathien eintragen würde.« Er hielt inne. »Könnte Fergun eine der Personen sein, die Ihr Sonea vorstellt?«
Rothen schüttelte den Kopf. »Sie hat eine gute Beobachtungsgabe und erfasst mühelos die Gefühle der Menschen. Fergun bringt mir wenig Zuneigung entgegen. Wenn ich sie davon überzeugen soll, dass wir alle freundlich und wohlmeinend sind, wird es meinen Bemühungen nicht dienen, wenn sie irgendwelche Konflikte zwischen uns wahrnimmt. Außerdem könnte sie in seiner Entschlossenheit, mit ihr zu sprechen, irrtümlich die Absicht sehen, ihr zu schaden.«
Lorlen betrachtete ihn einen Moment lang, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Wir alle wollen, dass Sonea so schnell wie möglich lernt, ihre Kräfte zu beherrschen«, erklärte er. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand Protest erheben wird, wenn ich entscheide, dass sie durch nichts von dieser Arbeit abgelenkt werden darf. Was glaubt Ihr, wie lange sie brauchen wird?«
»Das kann ich nicht sagen«, gestand Rothen. »Ich habe desinteressierte, unaufmerksame Novizen unterrichtet, aber ich habe noch nie versucht, jemandem die Kontrolle seiner Magie beizubringen, der Magiern mit solchem Misstrauen begegnet. Es könnte mehrere Wochen dauern.«