»Das… das ist normalerweise nicht notwendig, wenn man Kontrolle unterrichtet, aber die Umstände sind wohl auch kaum normal zu nennen.« Rothen schürzte die Lippen. »Aber einige Dinge sollte sie lieber nicht erfahren…«
»Dann verbirg sie vor ihr.« Dannyl lächelte. »So, auf mich wartet ein Klassenzimmer voll von deinen Novizen, die alle darauf brennen, ihre neuesten Streiche und Gemeinheiten an mir auszuprobieren. Von Lorlen hast du nichts zu befürchten. Aber ich erwarte heute Abend von dir zu hören, dass du beträchtliche Forschritte erzielt hast.«
Rothen kicherte. »Geh vernünftig mit ihnen um, dann werden sie vernünftig mit dir umgehen, Dannyl.«
Als sein Freund sich zum Gehen wandte, stieß Dannyl ein kurzes, freudloses Lachen aus. Irgendwo über ihnen erklang der Gong und kündete den Beginn der Unterrichtsstunde an. Seufzend straffte Dannyl die Schultern und betrat das Klassenzimmer.
Auf das Fenstersims gestützt, beobachtete Sonea die letzten Magier und Novizen, die davoneilten. Aber nicht alle hatten auf den Gong der Universität reagiert. Auf der anderen Seite der Gärten waren zwei Magier zurückgeblieben.
Bei dem einen handelte es sich um eine Frau in grünen Roben mit schwarzer Schärpe – das Oberhaupt der Heiler. Also hatten Frauen doch einen gewissen Einfluss in der Gilde, überlegte sie.
Der andere Magier war ein Mann, der blaue Roben trug. Sonea rief sich Rothens Erklärungen, was die Farben der Roben betraf, noch einmal ins Gedächtnis, konnte sich aber nicht daran erinnern, dass er blaue Roben erwähnt hatte. Die Farbe war ungewöhnlich, also war dieser Mann vermutlich ein einflussreicher Magier.
Rothen hatte ihr erklärt, dass Magier in hohen Positionen von den Mitgliedern der Gilde gewählt wurden. Diese Methode, Anführer durch eine Mehrheit bestimmen zu lassen, war faszinierend. Sonea hatte erwartet, dass die stärksten Magier über die anderen herrschen würden.
Rothen zufolge verbrachten die übrigen Magier ihre Zeit damit, zu unterrichten, zu experimentieren oder an öffentlichen Projekten zu arbeiten. Die Gebiete, auf denen sie sich betätigten, reichten von beeindruckenden bis hin zu schlicht lächerlichen Dingen. Zu ihrer Überraschung hatte sie erfahren, dass die Magier den Hafen gebaut hatten, und sie war einigermaßen belustigt gewesen, zu hören, dass einer der Magier einen großen Teil seines Lebens auf den Versuch verwandt hatte, immer stärkere Klebstoffe herzustellen.
Sie trommelte mit den Fingern auf das Sims und sah sich dann noch einmal in dem Raum um. In der vergangenen Woche hatte sie mehrmals Gelegenheit gehabt, alles einer gründlichen Musterung zu unterziehen, selbst das Zimmer, in dem Rothen schlief. Eine bedächtige Suche in sämtlichen Schränken, Truhen und Schubladen hatte Kleidungsstücke und alltägliche Gegenstände zutage gefördert. Die wenigen Schlösser, auf die sie gestoßen war, hatte sie mühelos öffnen können, aber der einzige Lohn für ihre Anstrengungen waren einige alte Dokumente gewesen.
Als sie eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds wahrnahm, drehte sie sich wieder zum Fenster um. Die beiden Magier hatten sich getrennt, und der Mann in Blau ging jetzt am Rand des Gartens entlang auf die zweistöckige Residenz des Hohen Lords zu.
Bei dem Gedanken an die Nacht, in der sie in dieses Gebäude gespäht hatte, überlief sie ein Frösteln. Rothen hatte nicht davon gesprochen, dass es unter den Magiern Assassinen gab, aber das war wohl kaum überraschend. Er versuchte schließlich, sie davon zu überzeugen, dass die Gilde wohlmeinend und nützlich war. Und wenn der schwarzgewandete Magier kein Assassine war, was konnte er dann sein?
Die Erinnerung an einen Mann in blutbefleckten Kleidern zuckte in ihr auf.
»Es ist vollbracht«, hatte der Mann gesagt. »Hast du meine Roben mitgebracht?«
Als sie das Klicken der Haupttür hinter sich hörte, zuckte sie zusammen. Sie wandte sich um und stieß langsam den Atem aus. Rothen kam mit wallenden purpurnen Roben auf sie zu.
»Entschuldige, dass es so lange gedauert hat.«
Er war ein Magier, und trotzdem entschuldigte er sich bei ihr. Erheitert zuckte sie nur die Achseln.
»Ich habe einige Bücher aus der Bibliothek mitgebracht.« Er straffte sich und betrachtete sie mit ernster Miene. »Aber ich dachte, wir fangen vielleicht mit einigen gedanklichen Übungen an. Was hältst du davon?«
»Gedankliche Übungen?« Sie runzelte die Stirn, dann wurde ihr plötzlich eiskalt, als sie begriff, was er da vorschlug. Glaubte er etwa, dass sie ihm nach nur einer Woche schon vertraute?
Tue ich das?
Er beobachtete sie genau. »Ich werde dich heute wahrscheinlich noch nicht in Kontrolle magischer Kräfte unterrichten«, erklärte er. »Aber zur Vorbereitung auf die Lektionen solltest du dich mit der Gedankenrede vertraut machen.«
Sonea dachte noch einmal an die vergangene Woche zurück und an die Dinge, die sie von ihm gelernt hatte.
Den größten Teil der Zeit hatte er darauf verwandt, ihr das Lesen beizubringen. Zuerst war sie argwöhnisch gewesen und hatte erwartet, im Inhalt der Bücher etwas zu finden, das er vielleicht als Bestechung verwenden würde. Sie war beinahe enttäuscht gewesen, dass er ihr lediglich einfache Abenteuergeschichten zu lesen gab, in denen von Magie kaum die Rede war.
Im Gegensatz zu Serin, der ängstlich darauf bedacht gewesen war, sie auf keinen Fall zu verärgern, zögerte Rothen nicht, sie zu verbessern, wenn sie einen Fehler machte. Er konnte ziemlich streng sein, aber sie hatte zu ihrer Überraschung herausgefunden, dass er ihr keine Angst machte. Bisweilen hatte sie sogar den Drang verspürt, ihn ein wenig aufzuziehen, wenn er allzu ernst war.
Wenn er sie nicht unterrichtete, versuchte er, mit ihr zu plaudern. Sie wusste, dass sie es ihm nicht leicht machte, da es so viele Themen gab, über die zu sprechen sie sich weigerte. Obwohl er immer bereit war, ihre Fragen zu beantworten, hatte er nie versucht, sie mit Gewalt oder List dazu zu bringen, ihrerseits mehr zu enthüllen, als sie enthüllen wollte.
Ob es sich mit der Gedankenrede genauso verhielt? Würde sie auch bei dieser Art der Kommunikation gewisse Dinge vor ihm verbergen können?
Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich muss es versuchen, sagte sie sich. Schließlich schluckte sie und nickte hastig. »Wie fangen wir an?«
Er bedachte sie mit einem forschenden Blick. »Wenn du es nicht tun willst, können wir durchaus noch ein paar Tage warten.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit.«
Er nickte, dann deutete er auf die Stühle. »Setz dich. Und mach es dir bequem.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und beobachtete, wie Rothen den niedrigen Tisch beiseite schob und einen Stuhl heranzog, so dass er ihr gegenüber Platz nehmen konnte. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt sitzen würde.
»Ich werde dich bitten, die Augen zu schließen«, sagte er. »Dann werde ich deine Hände nehmen. Es ist zwar nicht notwendig, dass wir uns berühren, wenn wir miteinander sprechen, aber es hilft dabei, sich zu konzentrieren. Bist du so weit?«
Sie nickte.
»Schließ die Augen«, wies er sie an, »und entspann dich. Atme tief und gleichmäßig. Hör auf das Geräusch deines Atems.«
Sie tat wie geheißen. Lange Zeit blieb er still. Nach einer Weile stellte sie fest, dass sie im gleichen Rhythmus atmeten, und sie fragte sich, ob er seinen Atem dem ihren angepasst hatte.
»Stell dir vor, dass sich mit jedem Atemzug ein Teil deines Körpers entspannt. Zuerst deine Zehen, dann die Füße, dann die Knöchel. Waden, Knie, Oberschenkel. Lass die Finger ganz locker, die Hände, die Handgelenke, die Arme, den Rücken. Lass die Schultern sinken. Beug den Kopf ein wenig vor.«
Obwohl sie fand, dass seine Anweisungen etwas seltsam waren, tat sie, was er sagte. Als sie spürte, wie die Anspannung aus ihren Gliedern wich, nahm sie gleichzeitig ein eigenartiges Flattern im Magen wahr.