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An den Wänden hingen Gemälde, und in den Ecken des Raums standen gepolsterte Sessel. Der Raum erinnerte sie ein wenig an Rothens Gästezimmer, obwohl er deutlich prachtvoller eingerichtet war. Das Gefühl von Rothens Persönlichkeit war stark, wie ein kräftiges Parfüm oder die Wärme von Sonnenlicht.

— Willkommen, Sonea. Du bist jetzt in dem Raum, den man das erste Zimmer meines Geistes nennen könnte. Hier kann ich dir Bilder zeigen. Sieh dir die Gemälde an.

Sie trat auf das Bild zu, das ihr am nächsten war. Auf dem Bild sah sie sich selbst, gekleidet in Magierroben, wie sie sich ernsthaft mit anderen Magiern unterhielt. Verstört trat sie einen Schritt zurück.

— Warte, Sonea. Sieh dir erst das nächste Gemälde an.

Widerstrebend ging sie an der Wand entlang. Das nächste Bild zeigte sie in grünen Roben, wie sie einen Mann mit einem verletzten Bein heilte. Sie wandte sich hastig ab.

— Warum stößt diese Zukunft dich derart ab?

— Weil ich das nicht bin.

— Aber du könntest es sein, Sonea. Begreifst du jetzt, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe?

Als sie sich noch einmal zu den Gemälden umdrehte, wurde ihr plötzlich klar, dass er tatsächlich die Wahrheit sprach. Hier konnte er sie nicht belügen. Er zeigte ihr reale Möglichkeiten. Die Gilde wollte sie wirklich als Novizin aufnehmen…

Dann entdeckte sie eine schwarze Tür, die ihr vorher nicht aufgefallen war. Als sie sie betrachtete, erkannte sie, dass sie verschlossen war, und ihr Argwohn kehrte zurück. Rothen mochte vielleicht nicht in der Lage sein, sie zu belügen, aber möglicherweise konnte er einige Wahrheiten vor ihr verborgen halten.

— Ihr versteckt etwas vor mir!, beschuldigte sie ihn.

— Ja, antwortete er. Wir alle haben die Fähigkeit, jene Dinge, die wir für uns behalten wollen, zu verbergen. Wenn es anders wäre, würde keiner von uns jemals einen anderen in seinen Geist einlassen. Ich werde dir beibringen, wie man das macht, denn du brauchst solche privaten Bereiche dringender als die meisten von uns. Beobachte mich, und ich werde dir erlauben, einen kurzen Blick auf das zu werfen, was hinter dieser Tür liegt.

Die Tür schwang auf. Auf der anderen Seite sah Sonea eine Frau auf einem Bett liegen. Ihr Gesicht war totenbleich. Ein Gefühl alles durchdringender Trauer strömte ihr aus diesem Raum entgegen. Ohne Vorwarnung fiel die Tür wieder ins Schloss.

— Meine Frau.

— Sie ist gestorben…?

— Ja. Verstehst du jetzt, warum ich diesen Teil von mir verborgen halte?

— Ja. Es… es tut mir Leid.

— Es ist lange her, und mir ist klar, dass du dich davon überzeugen musst, dass ich die Wahrheit spreche.

Sonea wandte sich von der schwarzen Tür ab. Ein Luftschwall war in den Raum geweht und hatte einen starken Geruch mitgebracht: eine Mischung aus Blumen und etwas, das scharf und unangenehm war. Die Bilder, die sie selbst in Roben zeigten, hatten sich ausgedehnt, so dass sie die Wände jetzt zur Gänze ausfüllten, aber die Farben wirkten gedämpft.

— Wir haben viel erreicht. Wollen wir jetzt in deinen Geist zurückkehren?

Unverzüglich rutschte ihr der Raum unter den Füßen weg, und sie wurde durch die rote Tür befördert. Draußen angelangt, blickte sie auf. Vor ihr erhob sich die Fassade ihres Hauses. Es war ein schlichter Holzbau, ein wenig schäbig, aber immer noch stabil – und typisch für die besseren Teile der Hüttensiedlungen. Sie überquerte die Straße und kehrte in den ersten Raum ihres Geistes zurück. Die Türen fielen hinter ihr zu.

— Jetzt dreh dich noch einmal um und schau nach draußen.

Als sie die Türen wieder aufdrückte, stand zu ihrer Überraschung Rothen vor ihr. Er wirkte ein wenig jünger und vielleicht auch ein wenig kleiner.

»Wirst du mich hineinbitten?«, fragte er lächelnd.

Sie trat einen Schritt zurück und bedeutete ihm einzutreten. Als er hereinkam, konnte sie seine Aura im Raum deutlich spüren. Er sah sich um, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass das Zimmer nicht länger leer war.

Gewissensbisse durchzuckten sie, als sie sah, dass auf einem Tisch in der Nähe eine Schatulle stand. Eine Schatulle, die sie aufgebrochen hatte. Der Deckel stand offen, und die Dokumente darin waren deutlich zu sehen.

Dann bemerkte sie Cery, der im Schneidersitz auf dem Fußboden sah und drei vertraute Bücher in Händen hielt.

Und in einer anderen Ecke standen Jonna und Ranel …

»Sonea.«

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Rothen sich die Augen zuhielt.

»Versteck alles, was ich nicht sehen soll, hinter Türen.«

Sonea sah sich im Raum um und konzentrierte sich darauf, alles beiseite zu schieben. Personen und Dinge glitten rückwärts durch die Wände und verschwanden.

— Sonea?

Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Rothen ebenfalls verschwunden war.

— Habe ich Euch auch hinausgeschoben?

— Ja. Lass uns das noch einmal versuchen.

Abermals öffnete sie die Tür und ließ Rothen in den Raum hinein. Als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, wandte sie den Blick ab, aber was immer sie gesehen hatte, versank in den Wänden. Sie drehte sich wieder um und stellte fest, dass jenseits der Tür ein neuer Raum aufgetaucht war. An der gegenüberliegenden Seite dieses Raumes stand eine Tür offen, und im nächsten Moment erschien dort Rothen.

Er trat durch die Tür, und alles war jetzt in Veränderung begriffen. Zuerst waren zwei Räume zwischen ihnen, dann drei.

— Genug!

Sie spürte, wie er sie losließ. Abrupt nahm sie wieder die körperliche Welt um sich herum wahr und schlug die Augen auf. Rothen hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und rieb sich die Schläfen.

»Ist alles in Ordnung mit Euch?«, fragte sie besorgt. »Was ist passiert?«

»Mir geht es gut.« Er ließ die Hände sinken und lächelte schief. »Du hast mich aus deinem Geist hinauskatapultiert. Es ist eine ganz natürliche Reaktion und eine, die du zu beherrschen lernen kannst. Keine Bange, ich bin daran gewöhnt. Ich habe schon viele Novizen unterrichtet.«

Sie nickte langsam. »Wollt Ihr es noch einmal versuchen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Wir werden uns ein wenig ausruhen, und dann kannst du dich weiter im Lesen üben. Vielleicht werden wir es heute Nachmittag noch einmal versuchen.«

20

Der Gefangene der Gilde

Cery gähnte. Seit die Magier Sonea gefangen hatten, war der Schlaf ein launisches Ding. Er wich ihm aus, wenn er ihn brauchte, und schlich sich an ihn heran, wenn er ihn nicht brauchte. Im Augenblick war es für ihn wichtiger als je zuvor, hellwach zu sein.

Ein eiskalter Wind peitschte durch Bäume und Hecken und erfüllte die Luft mit Lärm von Zweigen und Blättern, die er herumwirbelte. Die Kälte stahl sich in seine Muskeln, bis sie sich verkrampften. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht, streckte sich und massierte erst das eine Bein, dann das andere.

Er blickte abermals zu dem Fenster hinauf und dachte, was er wohl schon hundertmal in dieser Nacht gedacht hatte: »Sieh nach draußen«. Dann kam er zu der Erkenntnis, dass sein Kopf explodieren würde, wenn er sich noch stärker auf diesen einen Gedanken konzentrierte. Sonea mochte zwar in der Lage sein, den Geist anderer zu erspüren, aber offenkundig erstreckte sich dieses Talent nicht darauf, unerwartete Besucher draußen vor ihrem Fenster zu entdecken.

Er betrachtete die Schneebälle, die er geformt hatte, und wieder machten sich Zweifel in ihm breit. Wenn er einen davon nach ihrem Fenster warf, müsste er genug Lärm machen, um sie zu wecken, durfte aber gleichzeitig nicht so laut sein, dass er auch die Aufmerksamkeit anderer auf sich zog. Und obendrein hatte er keine Ahnung, ob sie sich noch immer in diesem Raum befand oder ob sie allein war.