Was spielte das für eine Rolle? Sie hatten ihn gefangen. Wenn sie ihm etwas antun wollten, war er ohnehin machtlos. Dann konnte er ebenso gut Sonea besuchen.
Er nickte. Der hochgewachsene Magier sah Fergun an. »Lasst ihn los.«
Ferguns Griff spannte sich noch einmal, bevor seine Finger Cerys Arm freigaben. Der blaugewandete Magier bedeutete Cery, ihm zu folgen, dann machte er sich auf den Weg hinüber zum Quartier der Magier.
Die Türen öffneten sich vor ihnen. Da er wusste, dass die beiden anderen Magier wie Wächter hinter ihm hergingen, folgte er dem Mann in Blau eine kurze Treppe hinauf in den oberen Stock. Sie gingen durch einen breiten Korridor und blieben vor einer der vielen schlichten Türen stehen. Der ältere Magier legte eine Hand auf den Knauf, und die Tür schwang auf.
Auf der anderen Seite lag ein behaglich eingerichtetes Zimmer mit gepolsterten Sesseln und kostbaren Möbeln. In einem der Sessel saß Sonea. Als sie Cery sah, lächelte sie.
»Geh nur hinein«, sagte der blaugewandete Magier.
Mit immer noch wild hämmerndem Herzen trat Cery in den Raum. Als die Tür sich hinter ihm schloss, drehte er sich um und fragte sich, ob er soeben in eine Falle gegangen war.
»Cery«, flüsterte Sonea. »Wie schön, dich zu sehen.«
Er wandte sich zu ihr um, um sie zu betrachten. Sie lächelte abermals, aber das Lächeln verblasste sehr schnell.
»Setz dich, Cery. Ich habe Rothen gebeten, mir zu erlauben, mit dir zu reden. Ich habe ihm versichert, dass du so lange weiter versuchen würdest, mich zu retten, bis ich dir erklärt habe, warum ich nicht fortgehen kann.« Sie deutete auf einen Sessel.
Widerstrebend nahm er Platz. »Warum kannst du nicht fort?«
Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich es dir so erklären kann, dass es einen Sinn ergibt.« Sie lehnte sich in dem Sessel zurück. »Magier müssen lernen, ihre Magie zu kontrollieren, und nur andere Magier können es ihnen beibringen, denn Kontrolle ist etwas, das man von Geist zu Geist unterrichten muss. Wenn ein Magier nicht lernt, seine Kräfte zu kontrollieren, wird seine Magie aktiv, sobald er irgendetwas fühlt. Die Magie nimmt einfache, gefährliche Formen an und wird immer stärker. Bis man am Ende…« Sie schnitt eine Grimasse. »An dem Tag, an dem sie mich gefunden haben, wäre ich… Ich wäre um ein Haar gestorben, Cery. Sie haben mich gerettet.«
Cery fröstelte. »Ich habe es gesehen, Sonea. Die Häuser – sie sind alle weg.«
»Es wäre noch schlimmer geworden, wenn sie mich nicht gefunden hätten. Menschen wären gestorben. Viele Menschen.«
Er blickte auf seine Hände hinab. »Das heißt, du kannst nicht nach Hause gehen.«
Sie kicherte – ein so unerwartet fröhlicher Laut, dass er sie erstaunt anstarrte.
»Es wird mir schon nichts zustoßen«, sagte sie. »Sobald ich die Kontrolle meiner Magie erlernt habe, wird keine Gefahr mehr von mir ausgehen. Außerdem erfahre ich, wie die Dinge hier funktionieren.« Sie zwinkerte ihm zu. »Aber erzähl mir doch, wo hängst du denn jetzt so rum?«
Er grinste. »Da, wo ich immer rumhänge. Im besten Bolhaus außerhalb der Stadtmauern.«
Sie nickte. »Und dein… Freund? Gibt er dir immer noch Arbeit?«
»Ja.« Cery schüttelte den Kopf. »Aber wenn er herausfindet, was ich heute Abend getan habe, wird sich das vielleicht ändern.«
Während sie über diese Bemerkung nachdachte, erschienen die vertrauten Sorgenfalten zwischen ihren Brauen. Cery spürte, wie irgendetwas sein Herz so fest umklammerte, dass es wehtat. Er ballte die Fäuste und wandte den Blick ab. Er hätte ihr gern von all den Schuldgefühlen und der Angst erzählt, die ihn quälten, seit man sie gefangen hatte, aber der Gedanke, dass sie vielleicht belauscht wurden, machte ihm das Sprechen unmöglich.
Er sah sich noch einmal in dem luxuriös eingerichteten Raum um und tröstete sich damit, dass man sie zumindest gut behandelte. Sie gähnte. Ihm fiel wieder ein, wie spät es war.
»Dann gehe ich wohl besser mal.« Er stand auf, hielt jedoch noch einmal inne, denn er wollte sie nicht verlassen.
Sie lächelte, und diesmal war es ein trauriges Lächeln. »Sag den anderen, dass es mir gut geht.«
»Das tue ich.«
Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ihr Lächeln verblasste ein wenig, dann deutete sie auf die Tür. »Ich komme schon zurecht, Cery. Vertrau mir. Und jetzt geh.«
Irgendwie zwang er sich, zur Tür zu treten und zu klopfen. Die Tür schwang nach innen auf. Die drei Magier musterten ihn forschend.
»Soll ich unseren Besucher zum Tor begleiten?«, erbot sich Fergun.
»Ja, danke«, antwortete der blaugewandete Magier.
Eine Lichtkugel erschien über Ferguns Kopf. Er sah Cery erwartungsvoll an. Cery drehte sich noch einmal nach dem Magier in Blau um und zögerte.
»Vielen Dank.«
Der Magier nickte zur Antwort. Cery wandte sich um und ging, gefolgt von dem blonden Magier, auf die Treppe zu.
Auf dem Weg nach unten ließ er sich Soneas Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Jetzt ergaben ihre Zeichen einen Sinn. Sie musste warten, bis sie gelernt hatte, ihre Magie zu kontrollieren, aber sobald sie das geschafft hatte, würde sie zu fliehen versuchen. Er konnte nur wenig tun, um ihr zu helfen, außer dafür zu sorgen, dass sie einen sicheren Ort hatte, an den sie zurückkehren konnte.
»Bist du Soneas Mann?«
Cery blickte überrascht zu dem Magier auf. »Nein.«
»Dann vielleicht ihr, äh… Geliebter?«
Cerys Wangen wurden heiß, und er wandte sich ab. »Nein, nur ein Freund.«
»Ich verstehe. Es war sehr heldenhaft von dir, hierher zu kommen.«
Da er fand, dass er auf diese Bemerkung nicht zu antworten brauchte, trat Cery aus dem Gebäude der Magier in den kalten Wind hinaus und wandte sich dem Garten zu. Fergun blieb stehen.
»Warte. Ich führe dich durch die Universität hinaus. Dort ist es wärmer.«
Sein Herz machte einen Satz. Die Universität.
Er hatte sich schon immer gewünscht, einmal einen Blick in das prächtige Gebäude werfen zu können. Wenn Sonea erst aus der Gilde geflohen war, würde sich eine solche Gelegenheit vielleicht nie mehr bieten. Achselzuckend, als sei es ihm vollkommen gleichgültig, machte er sich auf den Weg zum Hintereingang des gewaltigen Gebäudes.
Als sie die Treppen hinaufstiegen, begann sein Herz zu rasen. Sie kamen in ein großes Treppenhaus. Als der Magier Cery durch eine Seitentür in einen breiten, scheinbar endlosen Korridor führte, erlosch die Lichtkugel.
Zu beiden Seiten des Korridors zweigten Türen und weitere Korridore ab. Cery sah sich um, konnte aber die Quelle des Lichts nirgendwo ausmachen. Es war, als leuchteten die Wände selbst.
»Sonea hat uns ziemlich überrascht«, bemerkte Fergun plötzlich, und seine Stimme hallte durch den Gang. »Wir haben noch nie zuvor Anzeichen von magischem Talent bei den unteren Klassen entdeckt. Normalerweise ist Magie einzig den Häusern vorbehalten.«
Fergun sah Cery erwartungsvoll an; offensichtlich wollte er ihn in ein Gespräch verwickeln.
»Sonea selbst war ebenfalls ziemlich überrascht«, erwiderte Cery.
»Hier entlang.« Der Magier führte Cery in einen der Nebengänge. »Hast du schon einmal von anderen Hüttenleuten gehört, die über magische Kräfte verfügen?«
»Nein.«
Sie bogen um eine Ecke, gingen durch eine Tür in einen kleinen Raum und traten dann durch eine weitere Tür in einen Korridor, der ein wenig breiter war. Im Gegensatz zu den ersten Korridoren waren die Wände hier mit Holz vertäfelt, und in regelmäßigen Abständen hingen Bilder.
»Dieser Teil des Gebäudes ist das reinste Labyrinth«, bemerkte Fergun mit einem leisen Seufzen. »Komm, wir nehmen eine Abkürzung.«
Er blieb neben einem Gemälde stehen und griff dahinter. Ein Teil der Wand glitt beiseite, und ein dunkles Rechteck von der Größe einer schmalen Tür wurde sichtbar. Cery warf dem Magier einen fragenden Blick zu.
»Ich habe Geheimnisse schon immer geliebt«, sagte Fergun mit leuchtenden Augen. »Überrascht es dich, dass auch wir unterirdische Gänge haben? Dieser hier führt in den Inneren Ring – ein Weg, auf dem man trockenen Fußes und unbehelligt vom Wind an sein Ziel gelangt. Wollen wir?«