Interesse leuchtete in ihren Augen. »Ach nein?«
»Nicht alle Kinder, bei denen wir magisches Potenzial entdecken, treten der Gilde bei«, erklärte er. »Wenn es sich bei dem Kind zum Beispiel um den ältesten Bruder handelt, dann könnte er seiner Familie als Erbe vielleicht von größerem Nutzen sein. In den meisten Ländern gibt es Gesetze, die es Magiern erschweren, sich in der Politik zu betätigen. Ein Magier darf zum Beispiel nicht König werden. Aus diesem Grund ist es unklug, einen Magier zum Oberhaupt einer Familie zu machen. Die Gedankenrede ist eine Fähigkeit, die mit dem magischen Potenzial eines Menschen einhergeht. Manchmal, wenn auch nur sehr selten, entwickelt sich bei einem Menschen die Fähigkeit zur Gedankenrede auf natürliche Weise, auch wenn er nicht Magier geworden ist. Diese Personen kann man in der Wahrheitslesung unterweisen, was eine sehr nützliche Fähigkeit sein kann.«
»Eine Wahrheitslesung?«
Rothen nickte. »Natürlich kann man das nicht ohne das Einverständnis des Betreffenden tun, daher ist die Wahrheitslesung nur dann von Nutzen, wenn jemand einem anderen zeigen will, was er gesehen oder gehört hat. Es gibt bei uns in der Gilde ein Gesetz, das Anklagen betrifft. Wenn jemand einen Magier eines Verbrechens bezichtigt, muss der Betreffende sich mit einer Wahrheitslesung einverstanden erklären oder seine Anklage zurückziehen.«
»Das scheint mir nicht fair zu sein«, erwiderte Sonea. »Es war doch der Magier, der etwas Unrechtes getan hat.«
»Ja, aber diese Methode verhindert falsche Anklagen. Der Angeklagte, sei er nun ein Magier oder nicht, kann eine Wahrheitslesung ohne Weiteres verhindern.« Er zögerte. »Eine Ausnahme gibt es allerdings.«
Sonea runzelte die Stirn. »Ach?«
Rothen lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Finger. »Vor einigen Jahren wurde ein Mann in die Gilde gebracht, der im Verdacht stand, einige besonders grausame Morde begangen zu haben. Der Hohe Lord – unser Anführer – hat seine Gedanken gelesen und seine Schuld bestätigt. Es bedarf großer Begabung, um an den Blockaden in einem widerstrebenden Geist vorbeizukommen. Akkarin ist der Einzige von uns, dem das gelungen ist, obwohl es auch in der Vergangenheit schon Magier gegeben haben soll, die dazu in der Lage waren. Akkarin ist jedenfalls ein ungewöhnlicher Mann.«
Sonea nahm diese Worte in sich auf. »Aber hätte der Mörder seine Geheimnisse nicht einfach hinter Türen verbergen können, so wie Ihr es mir gezeigt habt?«
Rothen zuckte die Achseln. »Im Grunde weiß niemand, wie Akkarin es gemacht hat, aber als er erst einmal in den Geist des Mannes eingedrungen war, dauerte es nicht lange, bis dieser ihm seine Gedanken verriet.« Er hielt inne, dann sah er Sonea forschend an. »Du weißt selbst, dass man ein wenig Übung braucht, um Geheimnisse hinter Türen zu verstecken. Je größer deine Furcht vor einer Entdeckung ist, desto schwerer ist es, sie zu verbergen.«
Soneas Augen weiteten sich, dann wandte sie sich ab. Ihre Miene hatte sich jäh verschlossen.
Rothen, der sie beobachtete, ahnte, was sie dachte. Wann immer er in ihren Geist getreten war, waren Dinge und Menschen darin zum Vorschein gekommen, die sie vor ihm verbergen wollte. Sie geriet dann jedes Mal in Panik und verbannte ihn aus ihrem Geist.
Alle Novizen reagierten ähnlich. Er sprach nie über die Geheimnisse, die sich ihm in den Gedanken seiner Schüler offenbarten. Die versteckten Sorgen der jungen Menschen, die er unterrichtet hatte, drehten sich um persönliche Laster oder bestimmte Angewohnheiten – bisweilen auch um irgendeinen politischen Skandal – und waren leicht zu ignorieren. Indem er nicht darüber sprach, gab er den Novizen die Sicherheit, dass ihre Privatsphäre respektiert wurde.
Aber mit Schweigen würde er Sonea keine Sicherheit geben, und die Zeit wurde langsam knapp. Am Ende der Woche würde Lorlen seinen ersten Besuch machen, und er erwartete, dass sie bis dahin mit dem Kontrollunterricht begonnen hatte. Wenn sie jemals die Kontrolle ihrer Fähigkeiten erlernen sollte, dann musste sie diese Ängste überwinden.
»Sonea.«
Sie sah ihn widerstrebend an. »Ja?«
»Ich denke, wir sollten über deine Lektionen reden.«
Sie nickte.
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Im Allgemeinen spreche ich nicht darüber, was ein Novize mir in seinen Gedanken gezeigt hat. Auf diese Weise fällt es meinen Schülern leichter, mir zu vertrauen, aber in unserem Fall wird das nicht gehen. Du weißt, dass ich Dinge gesehen habe, die du für dich behalten wolltest, und es wird uns nicht im Mindesten weiterhelfen, wenn ich so tue, als wäre nichts dergleichen geschehen.«
Sie starrte den Tisch an, und ihre Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie die Lehnen ihres Stuhls.
»Fürs Erste«, fuhr er fort, »hatte ich damit gerechnet, dass du meine Räume durchsuchen würdest. Ich an deiner Stelle hätte es getan. Es macht mir nichts aus. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.«
Ihre Wangen röteten sich leicht, aber sie schwieg immer noch.
»Zweitens. Deinen Freunden und Verwandten droht keine Gefahr von uns.« Sie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Du hast Angst, dass wir dir, wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest, damit drohen könnten, ihnen etwas anzutun.« Er hielt ihrem Blick gelassen stand. »Das werden wir nicht tun, Sonea. Wenn wir es täten, würden wir damit das Gesetz des Königs brechen.«
Sie wandte sich wieder ab, und ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich.
»Ah, aber du machst dir trotzdem Sorgen. Du hast keinen Grund zu glauben, dass wir uns an das Gesetz des Königs halten«, erklärte Rothen. »Du hast keinen Grund, uns zu vertrauen. Was mich zu deiner dritten Sorge bringt, nämlich dass ich deine Fluchtpläne entdecken werde.«
Langsam wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.
»Du brauchst keine solchen Pläne zu machen«, sprach er weiter. »Wir werden dich nicht zwingen, hier zu bleiben, wenn du es nicht willst. Sobald du gelernt hast, deine Magie zu beherrschen, kannst du gehen oder bleiben, ganz wie du willst. Um Magierin zu werden, musst du ein Gelübde ablegen, das wir alle ablegen müssen – ein Gelübde, das uns bis ans Ende unseres Lebens bindet. Es ist kein Schwur, der unwillig getan werden darf.«
Sie sah ihn mit leicht geöffnetem Mund an. »Ihr werdet mich gehen lassen?«
Er nickte, dann wählte er seine nächsten Worte mit großem Bedacht. Es war zu früh, um ihr zu sagen, dass die Gilde sie nicht gehen lassen würde, ohne vorher ihre Kräfte zu blockieren, aber sie musste wissen, dass sie in diesem Fall all ihre magischen Fähigkeiten verlieren würde.
»Ja. Ich muss dich jedoch warnen: Ohne Ausbildung wirst du nicht in der Lage sein, deine Magie zu benutzen. Was du vorher tun konntest, wird dir dann nicht länger möglich sein. Du wirst über keinerlei Magie mehr gebieten können.« Er hielt inne. »In dem Fall wärst du auch den Dieben nicht mehr von Nutzen.«
Zu seiner Überraschung wirkte sie erleichtert. Der Anflug eines Lächelns glitt über ihre Lippen. »Das wäre kein Problem.«
Rothen musterte sie forschend. »Bist du dir sicher, dass du in die Hüttensiedlungen zurückkehren willst? Du hättest keinerlei Möglichkeit, dich zu verteidigen.«
Sonea hob die Schultern. »Dann wird es nicht anders sein als zuvor. Und ich bin früher gut zurechtgekommen.«
Rothen runzelte die Stirn. Ihr Selbstbewusstsein beeindruckte ihn, aber gleichzeitig erschreckte ihn der Gedanke, sie in die Armut zurückzuschicken. »Ich weiß, dass du wieder zu deiner Familie willst. Wenn du der Gilde beitrittst, heißt das nicht, dass du die Menschen, die dir teuer sind, verlieren würdest, Sonea. Sie können dich hier besuchen, genauso wie du zu ihnen gehen kannst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Er schürzte die Lippen. »Machst du dir Sorgen, dass sie dich fürchten werden, dass es Verrat an allen Hüttenleuten wäre, das zu werden, was sie hassen?«
Der kurze, durchdringende Blick, den sie ihm zuwarf, sagte ihm, dass er dem wahren Problem näher gekommen war, als sie es für möglich gehalten hätte.