Ein leises Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, und er blieb jäh stehen, überzeugt davon, noch andere Schritte als seine eigenen gehört zu haben. Nur Stille folgte. Seufzend setzte er sich wieder in Bewegung.
In Gedanken hatte er ungezählte Gespräche mit seinem Entführer geführt. Nach seinem erfolglosen Versuch, den Magier zu töten, hatte Cery viele Stunden lang über seine Situation nachgegrübelt. Es war unmöglich, aus der Zelle auszubrechen, und er stellte nicht die geringste Gefahr für Fergun dar. Sein Schicksal lag ganz in dessen Händen.
Obwohl es ihm einen bitteren Geschmack in den Mund trieb, wusste er, dass seine einzige Chance auf Entkommen darin lag, sich den Magier gewogen zu machen. Was jedoch unmöglich schien – Fergun zeigte keinerlei Neigung, mit ihm zu reden. Und offensichtlich brachte er Cery nur Verachtung entgegen. Um Soneas willen, dachte Cery. Um ihretwillen muss ich es versuchen.
Sonea. Cery schüttelte den Kopf und seufzte. Möglicherweise war sie gezwungen worden, ihm zu sagen, dass sie die Hilfe der Gilde brauchte, um Kontrolle über ihre Kräfte zu gewinnen, aber Cery bezweifelte es. Sie hatte nicht ängstlich oder angespannt gewirkt, nur resigniert. Er hatte selbst mitangesehen, wie ihre Kräfte auf ihre Gefühle reagiert hatten, wie gefährlich sie geworden waren. Es war durchaus möglich, dass ihre Magie sie am Ende getötet hätte.
Was bedeutete, dass er nichts Schlimmeres hätte tun können, als Sonea zu den Dieben zu bringen. Dort hatte sie jeden Tag Magie benutzen müssen und versucht, ihre Kräfte noch zu stärken, wodurch sie womöglich umso schneller die Kontrolle darüber verloren hatte.
Aber irgendwann wäre sie ohnehin zu diesem Punkt gelangt, ganz gleich, was er, Cery, getan hätte. Früher oder später hätte die Gilde sie gefunden, oder sie wäre gestorben.
Cery schnitt in der Dunkelheit eine Grimasse und dachte an den Brief, den die Magier ihr geschickt und in dem sie behauptet hatten, sie wollten Sonea keinen Schaden zufügen. Stattdessen hatten sie ihr einen Platz in der Gilde angeboten. Sonea hatte ihnen nicht geglaubt. Ebenso wenig wie Faren.
Aber Cery hatte einen alten Bekannten unter den Dienern der Gilde. Der Mann wäre vielleicht in der Lage gewesen, den Wahrheitsgehalt dieses Briefes zu bestätigen, aber Cery hatte ihn nicht gefragt.
Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte, dass wir zusammenblieben. Sonea und ich, im Dienst der Diebe… Oder ohne die Diebe, aber zusammen…
Sie war nicht für die Diebe bestimmt – oder für ihn. Sie besaß Magie. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie gehörte zu den Magiern.
Eifersucht loderte in ihm auf, aber er schob sie beiseite. In der Dunkelheit waren ihm Zweifel an seinem Hass auf die Gilde gekommen. Ein Gedanke drängte sich ihm immer wieder auf: Wenn die Magier so viel Mühe darauf verwandt hatten, Sonea – und viele andere Hüttenleute – vor ihren unbeherrschten Kräften zu retten, dann konnten sie dem Hüttenvolk gegenüber nicht gar so gleichgültig sein, wie er es immer vermutet hatte.
Und welche bessere Zukunft hätte er sich für Sonea vorstellen können? Sie konnte Reichtum, Wissen und Macht haben. Wie konnte er ihr das verwehren?
Er konnte es nicht. Er hatte keinen Anspruch auf sie. Diese Erkenntnis schmerzte ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Obwohl sein Herz in dem Moment, als sie in sein Leben zurückgekehrt war, zu singen begonnen hatte, hatte sie ihm gegenüber niemals mehr als Zuneigung oder Freundschaft zu erkennen gegeben.
Wieder hörte er ein leises Geräusch und blieb stehen. Irgendwo in der Ferne konnte er das Klatschen von Schuhsohlen auf dem Stein wahrnehmen. Als die Schritte näher kamen, wich Cery von der Tür zurück, damit der Magier eintreten konnte. Die Schritte kamen jetzt schnell näher, was bedeutete, dass Fergun es eilig hatte.
Aber dann blieb, wer immer draußen vorbeiging, nicht vor der Tür stehen, sondern setzte seinen Weg fort.
Cery machte einen Schritt nach vorn. War das da draußen wirklich Fergun, der nur in eine andere Richtung ging? Oder war es jemand anders?
Er stürzte zur Tür hinüber und hob die Hand, um dagegen zu hämmern, dann packten ihn plötzlich Zweifel, und er erstarrte. Wenn er Recht hatte und Fergun ihn benutzte, um Sonea zu erpressen, würde er sie dann in Gefahr bringen, indem er floh und Ferguns Pläne durchkreuzte?
Wenn Fergun Sonea zu viel erzählt hatte, würde er sie vielleicht töten, um sein Verbrechen geheim zu halten. Cery hatte viele Geschichten von fehlgeschlagenen Entführungen und Erpressungsversuchen gehört, und als er sich jetzt das unerfreuliche Ende einiger dieser Berichte ins Gedächtnis rief, schauderte er.
Die Schritte draußen waren inzwischen verklungen. Cery lehnte den Kopf an die Tür und fluchte. Es war zu spät. Der Fremde war fort.
Seufzend beschloss er, weiterhin zu versuchen, Ferguns Freundschaft zu gewinnen, und sei es auch nur, um mehr über die Pläne des Magiers zu erfahren. Wieder einmal ging Cery im Geiste verschiedene Möglichkeiten eines Gesprächs mit dem Mann durch. Als kurz darauf abermals Schritte erklangen, glaubte er beinahe, er habe sie sich nur eingebildet.
Aber dann wurden die Schritte lauter, und er wusste, dass er sich nicht geirrt hatte. Sein Herz schlug plötzlich schneller – es waren zwei Personen, die sich seinem Gefängnis näherten. Sie blieben draußen vor der Tür stehen, und Cery hörte, durch die Tür gedämpft, Ferguns Stimme.
»Halt, wir sind da.«
Das Schloss klickte, und die Tür schwang auf. Eine Lichtkugel schwebte über Ferguns Kopf und blendete Cery für einen Moment. Doch trotz des grellen Lichts erkannte er die Silhouette des zweiten Besuchers.
»Sonea!«, rief er überglücklich.
»Cery?«
Sonea hob die Hände und nahm ihre Augenbinde ab. Dann lächelte sie ihn blinzelnd an und trat in seine Zelle.
»Geht es dir gut? Du bist nicht krank oder verletzt?« Sie musterte ihn forschend.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und was ist mit dir?«
»Mir geht es gut.« Sie drehte sich zu Fergun um, der sie und Cery voller Interesse beobachtete. »Fergun hat dir nichts angetan?«
Cery brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Nur, wenn ich es herausgefordert habe.«
Sie zog die Brauen hoch. Dann wandte sie sich um und sah Fergun mit schmalen Augen an. »Gebt mir etwas Zeit, um allein mit ihm zu reden.«
Fergun zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Meinetwegen. Ein paar Minuten, mehr nicht.«
Er machte eine Bewegung mit der rechten Hand, und die Tür fiel zu, so dass sie in tiefer Dunkelheit zurückblieben.
Cery seufzte. »Nun, jetzt sitzen wir immerhin zusammen in der Falle.«
»Er wird mich nicht hier zurücklassen. Er braucht mich.«
»Wozu?«
»Das ist ziemlich kompliziert. Er möchte, dass ich der Gilde beitrete, damit er mich dazu zwingen kann, ein Gesetz zu brechen, so dass man mich wieder hinauswirft. Ich glaube, das ist seine Art, sich dafür zu rächen, dass ich ihn bei der Säuberung mit meinem Stein getroffen habe – aber ich vermute, dass es ihm außerdem darum geht, die Gilde davon zu überzeugen, wie wenig wünschenswert es ist, Hüttenleute aufzunehmen. Es spielt keine Rolle. Wenn ich tue, was er sagt, wird er dich freilassen. Glaubst du, dass er zu seinem Wort stehen wird?«
Cery schüttelte den Kopf, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. »Diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Er war nicht grausam zu mir. Die Diebe wären schlimmer gewesen.« Er zögerte. »Ich glaube nicht, dass er weiß, was er tut. Zieh irgendjemanden ins Vertrauen.«
»Nein«, erwiderte sie. »Wenn ich ihn verrate, wird Fergun sich weigern, dein Versteck preiszugeben. Du wirst verhungern.«
»Es muss doch noch jemanden geben, der über dieses Verlies Bescheid weiß.«
»Es könnte Tage dauern, bis man dich findet, Cery. Wir sind weit gegangen, um hierher zu kommen. Möglicherweise befindest du dich nicht einmal innerhalb der Gilde.«
»Mir kam der Weg nicht so weit –«