In der großen Kombüse der Fluchtburg hatten sich Owen, Hazel, der Wolfling, Jakob, Ruby und Giles um einen Tisch versammelt und entspannten sich nach der anstrengenden Ratsversammlung bei ein paar Flaschen wirklich ausgesprochen guten Weins und einer stärkenden Mahlzeit der stets gleichen Proteinwürfel. Giles wurde nicht müde zu versichern, daß er die Nahrungsmittelautomaten reparieren würde, doch irgendwie war er immer zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. In Owen regte sich allmählich der Verdacht, daß sein Vorfahr das Handbuch für die Maschinen verloren hatte und es jetzt nicht zugeben wollte. Alexander Sturm und die beiden Stevie Blues hatten einen kurzen Blick auf das angebotene Essen geworfen.
Dann war ihnen überraschend eingefallen, daß sie dringend ihre Berichte für die Untergrundbewegung von Golgatha fertigstellen und sich deshalb für eine Zeit zurückziehen mußten.
Owen war sicher, daß sie irgendwo ihr eigenes Essen versteckt hatten.
Der Todtsteltzer biß entschlossen in seinen zweiten Würfel.
Owen gab die Hoffnung nicht auf, daß er sich früher oder später an das Zeug gewöhnen würde, aber es schmeckte jeden Tag aufs neue ekelhaft. Nur reine Willenskraft ließ seinen Kehlkopf eine Schluckbewegung machen, und Owen beeilte sich, den Mund mit einem großen Schluck Wein zu spülen. Kein Wunder, daß er nach jeder Mahlzeit halb betrunken war. Er fragte sich allmählich, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn er sich bereits vor dem Essen betrank, um nicht so viel davon schmecken zu müssen. Owen seufzte schwer und schob den Rest des Würfels von sich. Er hatte sowieso geplant, demnächst eine Diät zu machen.
»Sei nicht traurig«, versuchte Hazel ihn zu trösten. »Auf Nebelwelt gibt es ein paar wirklich hervorragende Restaurants.«
»Hoffentlich«, erwiderte Owen.
»Ich will einen Gentest«, meldete sich Jakob Ohnesorg unvermittelt zu Wort. Alle fuhren herum und blickten den alten Mann fragend an. Er errötete ein wenig. »Ich meine, irgendwo in dieser riesigen Burg muß doch die nötige Ausrüstung für einen Gentest auf zutreiben sein!«
»Ich denke schon«, sagte Giles. »Oder zumindest etwas, mit dem ich einen Gentest improvisieren kann. Aber das ist nicht notwendig. Wir alle wissen, daß Ihr der echte Jakob Ohnesorg seid. Wir stehen miteinander in geistiger Verbindung, seit wir im Labyrinth des Wahnsinns waren.«
»Das reicht mir nicht«, beharrte Jakob Ohnesorg. »Es beweist doch nur, daß ich davon überzeugt bin, der echte zu sein.
Aber ich könnte mich irren. Wer weiß schon, was die Imperialen Hirntechs mit mir angestellt haben, während ich ihr Gefangener war?«
»Du mußt dich keinem Test unterziehen, um uns zu beweisen, wer du bist«, entgegnete Ruby.
»Zur Hölle mit Euch!« fuhr Ohnesorg sie an. »Ich will den verdammten Test, damit ich selbst weiß, wer ich bin! Ich weiß es nämlich nicht mehr! Und Ihr habt die Gesichter in der Versammlungshalle gesehen. Sie haben erwartet, eine Legende anzutreffen, und fanden statt dessen einen alten Mann mit wirren und lückenhaften Erinnerungen.«
»Hörst du wohl endlich mit diesem Unsinn von wegen alter Mann auf?« herrschte Ruby Reise Jakob an. »Du bist erst siebenundvierzig. Das hast du mir selbst gesagt.«
»Aber ich habe in den wenigen Jahren so viel erlebt«, widersprach Jakob. »Wenigstens glaube ich das. Ich traue meinen eigenen Erinnerungen nicht mehr.«
»Ich kann den Test vorbereiten, wenn Ihr darauf besteht«, erklärte Giles. »Aber es dauert eine Zeit, bis ich die Ausrüstung zusammengebaut habe. Es würde bedeuten, daß sich Eure Abreise nach Technos III um zwei, vielleicht sogar drei Tage verzögert.«
Owen runzelte die Stirn. »Ich denke nicht, daß wir so lange warten können. Wir arbeiten nach einem Plan, vergeßt das nicht.«
»Der Test kann jedenfalls warten«, sagte Ruby Reise entschieden. »Ich weiß genau, wer du bist, selbst wenn du es nicht weißt. Auf uns warten Aufgaben, und die gehen in jedem Fall vor.«
Ohnesorg blickte noch immer nachdenklich drein. Schließlich zuckte er die Schultern und nickte. Alle saßen schweigend an dem großen runden Tisch, sahen sich an und anschließend weg. Bald schon würden sie sich aufteilen müssen und zu verschiedenen Missionen aufbrechen, und vielleicht kehrte keiner von ihnen lebend zurück. Niemand wußte so recht, was er sagen sollte.
»Wir werden trotzdem noch miteinander in Verbindung stehen«, sagte Giles schließlich. »Wo auch immer wir uns aufhalten. Ich glaube nicht, daß Entfernung den geringsten Unterschied macht.«
»Aber es könnte sein«, erwiderte Hazel. »Das alles ist viel zu neu für uns. Niemand hat je so eng mit jemand anderem in Verbindung gestanden wie wir untereinander. Zur Hölle, es hat nie jemanden wie uns gegeben!«
»Ja«, sagte Owen gedehnt. »Und das ist es, was mir Sorgen macht. Man bekommt solche Kräfte nicht einfach geschenkt.
Man muß dafür bezahlen, wenn ich auch nicht weiß, wie oder mit was.«
»Das ist eine typisch menschliche Denkweise«, warf der Wolfling ein. »Und beschränkt dazu. Ihr seid nicht länger menschlich, Owen. Warum solltet Ihr also menschliche Grenzen beachten?«
»Aber es muß Grenzen geben«, erwiderte Giles. »Irgendwann stößt man immer an Grenzen. Mag schon sein, daß wir keine richtigen Menschen mehr sind, aber das heißt noch lange nicht, daß wir jetzt Götter sind.«
»Oh, ich hätte nichts dagegen«, sagte Ruby. »Braungebrannte junge Akolythen, die mir Gold und Juwelen als Tribut darbrächten. Ich könnte damit leben.«
»Es ist mehr als das«, widersprach Owen. »Die Verbindung zwischen uns ist nicht nur ein verbesserter Komm-Kanal. Wir verändern uns andauernd und kommen uns immer näher. Hat einer von Euch bemerkt, daß wir begonnen haben, auf die gleiche Art und Weise zu reden?«
»Ja«, sagte Hazel. »Wir alle reden viel ähnlicher als zu Beginn. Wir benutzen die gleichen Phrasen, teilen die gleichen Vorstellungen und entwickeln ähnliche Wege, wie wir die Dinge sehen.«
»Wenn Euch das alles aufgefallen ist…«, sagte Jakob Ohnesorg, »… warum habt Ihr dann bisher kein Wort darüber verloren?«
»Ich hatte gehofft, daß ich es allein wäre. Verdammt, es ist richtig unheimlich, wenn man sich die Sache überlegt. Und es ist nicht allein die Sprache. Wir teilen die gleichen Fähigkeiten, ohne sie lernen zu müssen. Selbst außergewöhnliche Talente wie zum Beispiel Owens Zorn.«
»Und andauernd sagt einer von Euch genau das, was ich gerade dachte«, fügte Owen hinzu. »Und ich spüre, wo Ihr seid und was Ihr gerade macht, ohne daß ich es irgendwoher wissen könnte. Werden wir zu einem Kollektivbewußtsein oder was?«
»Ich denke nicht«, antwortete Giles. »Wir sind noch immer fähig, Geheimnisse voreinander zu bewahren. Oder etwa nicht, Hazel?«
Ihr Herz drohte für einen Augenblick auszusetzen, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Wovon redest du, Mann?«
»Vielleicht würdet Ihr uns freundlicherweise mitteilen, warum Ihr so viel Zeit in der Stadt der Hadenmänner verbringt?« fragte Giles.
»Das ist allein meine Angelegenheit«, erwiderte Hazel tonlos.
»Wir alle haben ein Recht auf unser Privatleben«, wurde sie von Owen unterstützt.
»Ich will es aber trotzdem wissen«, beharrte Giles.
»Sie hat Tobias Mond besucht. Reicht das?« erklärte Owen.
»Wenn sie es uns nicht sagen will, dann ist das ihr gutes Recht.
Nur weil wir uns so nahestehen, bedeutet das noch lange nicht, daß wir uns gegenseitig das Herz ausschütten müssen.«
»Aber uns bleibt vielleicht keine andere Wahl«, sagte Giles.