»Hört auf, Frost«, sagte er leise. »Wir müssen es wirklich nicht wissen.«
»Er respektiert uns nicht«, entgegnete sie. »Er fürchtet uns nicht einmal. Ich will wissen, warum.«
»Hört auf Euren Partner«, empfahl der Mann – aus Schlamm.
»Ihr wollt es wirklich nicht wissen. Dieses Bild ist alles, was Ihr zu verstehen imstande seid. Die Wahrheit über mich und meine Rasse würde Euren beschränkten Verstand zerstören.«
Er unterbrach sich abrupt und starrte Frost mit verkniffenem Gesicht an. »Was macht Ihr da? Euer Verstand… er entwindet sich. An Euch ist etwas, das vorher noch nicht da war. Ihr seid kein Mensch. Was seid Ihr?«
Frost starrte das Wesen an, die Stirn in angestrengte Falten gelegt, und suchte in sich nach einer Kraft, von der sie nicht gewußt hatte, daß sie überhaupt da war. Dieses Wesen da, dieser Mann aus Schlamm – irgend etwas war an ihm, etwas Größeres, Mächtigeres… Die schiere Größe machte Frost schwindeln, und ihr Kopf begann zu schmerzen, doch sie wandte den Blick nicht ab. Es war tief unten im Schlamm, und es kam langsam durch die Tiefen hinauf zu ihr. Es besaß Länge und Breite und Tiefe und noch mehr Dimensionen, und vielleicht würde sein Anblick ausreichen, um sie zu Stein erstarren zu lassen wie einen Schmetterling, der von Medusas Blick gefangen wurde, aber Frost konnte nicht, wollte nicht wegsehen. Sie mußte es wissen. Sie mußte wissen, wie… Schwejksam packte Frost bei den Schultern ihres Hartanzugs, wirbelte sie herum und schüttelte sie so hart, wie er nur konnte.
»Hört auf! Seht nicht hin! Ich kann sehen, was Ihr seht, und es ist gefährlich! Wir sind nicht bereit, ein Wesen wie dieses zu erblicken. Allein der Anblick würde ausreichen, um unsere Augen erblinden zu lassen und uns wahnsinnig zu machen!
Seht weg, Investigator. Das ist ein Befehl!«
Schwejksams Verstand streckte einen Fühler aus, ohne daß er so recht wußte, was er tat und vor allem wie, und langsam, ganz langsam zwang er Frosts inneres Auge, sich zu schließen.
Das Bild dessen, was sich unter dem Schlamm verbarg, löste sich plötzlich auf, und die starke mentale Verbindung zwischen Frost und Schwejksam erstarb zu dem üblichen leisen Geräusch im Hinterkopf. Dann waren sie beide wieder in ihren eigenen Köpfen und sahen nur noch das, was ihre physischen Augen wahrnahmen. Frost erschauerte unwillkürlich.
»Danke, Kapitän. Ich… ich hatte mich verloren, jedenfalls für eine Weile.«
»Laßt uns von hier verschwinden, Investigator. Wir haben ihnen ihre Instruktionen überbracht. Alles andere geht uns einen verdammten Dreck an.«
»Wir dürfen nicht zulassen, daß sie uns vertreiben. Wir müssen ihnen klarmachen, wer hier das Sagen hat.«
»Ich habe das beunruhigende Gefühl, als wüßten sie das bereits«, erwiderte Schwejksam. »Laßt uns gehen.«
Wieder auf der Brücke der Unerschrocken, wurde Schwejksam durch die leise, aber drängende Stimme seines Kommunikationsoffiziers aus seinen Gedanken gerissen. Eden Creutz hatte sich an seiner Konsole umgedreht und blickte zu seinem Kapitän, der ein paarmal blinzelte und sich dann Mühe gab, wach und ausgeschlafen zu wirken, als hätte er Creutz bereits die ganze Zeit über zugehört. Es dauerte einen Augenblick, bis Schwejksam bemerkte, daß er Creutz nichts vormachen konnte, dann entspannte er sich mit einem verlegenen Lächeln. Er war froh, daß es Creutz war. Creutz war ein guter Mann.
»Tut mir leid«, sagte Schwejksam. »Ich war lichtjahreweit weg. Wiederholt Eure Worte bitte noch einmal.«
»Es scheint Schwierigkeiten zu geben im Unterdeck, Kapitän«, sagte Creutz. In seinem dunklen Gesicht war nicht die kleinste Spur eines Lächelns zu erkennen, doch seine Augen drückten Verständnis aus. »Vor kurzer Zeit hörten einige Leute seltsame Geräusche in den Privaträumen von Sicherheitsoffizier Stelmach. Ein paar der Männer wollten der Sache auf den Grund gehen und entdeckten, wie Stelmach systematisch das Mobiliar seines Quartiers zertrümmerte. Sie erkundigten sich höflich, ob er ein Problem hätte, und er bewarf sie mit Gegenständen. Die Leute haben sich gegenwärtig aus seiner Reichweite zurückgezogen und warten auf weitere Instruktionen. Er ist schließlich ihr Vorgesetzter. Und rein technisch betrachtet steht nur Ihr als Kapitän dieses Schiffes und Investigator Frost
über ihm und seid ermächtigt, einen wildgewordenen Sicherheitsoffizier zu bändigen.«
Schwejksam wechselte einen Blick mit Frost, die wie üblich neben ihm stand. Sie hob die Augenbrauen. Stelmach neigte dazu, in Notsituationen die Nerven zu verlieren, aber an Bord des Schiffes war er in der Regel kühl, beherrscht und befolgte die Vorschriften haargenau. Böse Zungen sagten ihm nach, daß er nicht einmal seinen Eingeweiden eine Bewegung erlaubte, ohne vorher in den Vorschriften nachzusehen. Also mußte etwas wirklich Ernsthaftes geschehen sein, wenn Stelmach derart die Fassung verlor.
»Ich denke, wir sehen besser nach, Investigator«, sagte Schwejksam. »Er ist verantwortlich für die Sicherheit des Schiffs, und wenn er etwas derartig Bestürzendes entdeckt hat, dann schätze ich, daß ich darüber Bescheid wissen will.«
Frost nickte ruhig. »Wir sind bereits seit geraumer Zeit hier draußen am Abgrund. So weit weg von jeder Zivilisation und jedem Leben sind schon ganz andere Leute zerbrochen.«
»Nicht Stelmach«, widersprach Schwejksam. »Um ihn zu zerbrechen, braucht es schon eine ganze Menge mehr als Kabinenfieber.« Schwejksam erhob sich aus seinem Sessel und übergab seinem Stellvertreter das Kommando. »Investigator, folgt mir. Aber laßt mir die Hände von den Waffen. Ich will Stelmach bei Bewußtsein und imstande, meine Fragen zu beantworten.«
»Spielverderber«, entgegnete Frost.
Gemeinsam verließen Schwejksam und Frost die Brücke und nahmen den Expreßaufzug nach unten zu den Offiziersquartieren. Sie merkten frühzeitig, daß sie sich Stelmachs Quartier näherten. Besatzungsmitglieder standen in den Gängen, einschließlich der Männer und Frauen von der letzten Schicht – sie waren von Stelmachs lautem Fluchen und Schreien geweckt worden. Schwejksam schickte sie freundlich, aber bestimmt wieder in ihre Quartiere und versicherte ihnen, daß er für Ruhe sorgen würde. Frost half denen mit kalten Blicken ein wenig nach, die Schwejksams Aufforderung nur zögernd Folge leisteten. Schließlich erreichten der Kapitän und sein Investigator eine Biegung, hinter der sich ein halbes Dutzend Sicherheitsleute in Deckung drückte. Die Männer wären vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren, als Schwejksam sie von hinten ansprach, doch als sie bemerkten, daß es nur der Kapitän war, entspannten sie sich sichtlich erleichtert. Sie schienen sogar froh zu sein über Frosts Anblick, und das war bestimmt das allererste Mal.
Rasch entwickelte sich unter den sechsen eine Diskussion, wer die Verantwortung trug, und dann wurde einer aus der Mitte nach vorn gestoßen. Der Mann wollte gerade anfangen zu erklären, was sich zugetragen hatte, als er bemerkte, daß er vergessen hatte zu salutieren und versuchte, sein Versäumnis nachzuholen und sich gleichzeitig zu entschuldigen. Dann fing er wieder von vorn mit seinem Bericht an. Das Geräusch eines großen, aber nichtsdestotrotz zerbrechlichen Gegenstands, der in hundert Teile zersprang, ertönte aus dem Durchgang zu Stelmachs Quartier, gefolgt von weiteren zusammenhanglosen Flüchen. Der Soldat vor Schwejksam schluckte und begann ein drittes Mal von vorn.
»Mein Name ist Leutnant Zhang, Sir. Sicherheitsoffizier Stelmach scheint sich… unwohl zu fühlen. Wir haben versucht, dem Problem auf den Grund zu gehen, doch… er weigert sich, mit uns zu sprechen. Außerdem ist er mit einem Disruptor bewaffnet. Vielleicht, wenn Ihr auf ein Wort mit ihm…