»Die Maschinen der Kapsel sind ausgebrannt«, erwiderte Ohnesorg. »Die Heizer besitzen keine Energie mehr, genau wie alles andere an Bord. Und es besteht die nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, daß die Speicher giftige Gase freisetzen. Wenn du nicht mehr an die Kälte denken willst, dann halte doch nach unseren Verbindungsleuten Ausschau. Das wird dich ablenken. In diesem Orkan könnten sie direkt an uns vorbeilaufen, ohne uns zu sehen oder zu hören. Wenn sie nicht bald auftauchen, werden wir die giftigen Gase riskieren müssen. Besser ersticken als erfrieren, und du hältst die Kälte nicht so lange aus.«
»Ich halte jede Kälte aus, die du aushältst, du alter Furz«, erwiderte Sturm ärgerlich. »Ich bin nur sechs Jahre älter als du, wenn ich dich daran erinnern darf.«
»Sicher, Alex. Und jetzt halt die Klappe und spar dir deine Kraft.«
»Du hast schon immer gerne den Chef gespielt.«
»Wie weit ist es bis zum Stützpunkt der Rebellen?« erkundigte sich Ruby taktvoll. Jedenfalls so taktvoll, wie sie konnte.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Sturm. »Sie wollten es uns nicht verraten. Sie gaben uns die Landekoordinaten und sagten, man würde mit uns in Kontakt treten, das ist alles. Ich hasse es, blindlings in derartige Situationen zu geraten. Ich hoffe nur, diese paranoiden Bastarde finden uns vor den Imperialen Spähern. Man hat uns ein Ablenkungsmanöver zugesagt, um die Truppen an einem anderen Ort zu binden, aber ich traue der Sache von Minute zu Minute weniger. Ich sollte vielleicht auch noch darauf hinweisen, daß ich meine Extremitäten bald nicht mehr spüre.«
»Mach dir keine Gedanken deswegen«, beruhigte ihn Ohnesorg. »In deinem Alter taugen Extremitäten sowieso nicht mehr besonders viel.«
»Du kannst einen ganz schön aufmuntern, weißt du das?« erwiderte Sturm.
Sie verstummten für eine Weile, und die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Die drei Rebellen drängten sich noch dichter zusammen und spähten angestrengt in das dichte Schneegestöber. Dunkle metallene Auswüchse schimmerten durch den Sturm, aber nirgendwo ein Zeichen von Leben. Ohnesorg schlug seine Handschuhe gegeneinander und blickte sehnsüchtig auf Rubys dicke Pelze, die sie über der Lederkleidung trug.
Er hatte immer gedacht, sie würde nur darauf bestehen, dieses Zeug zu tragen, um ihr barbarisches Äußeres zu bewahren, aber vielleicht hatte sie bei den Lagebesprechungen einfach nur besser zugehört als er. Es hätte ihn nicht überrascht. Hinter ihrem sorgfältig barbarischen Auftreten verbarg sich ein messerscharfer Verstand. Ohnesorg hustete und nieste heftig. Irgend etwas in der Luft reizte seine Lungen. Selbst wenn man die bittere Kälte berücksichtigte, war die Luft doch um einiges dicker als gewöhnlich, und sie roch, als hätte jemand anderes sie schon einmal geatmet. Die Einheimischen hatten ihm versichert, daß sie atembar sei – wenn man sich erst daran gewöhnt hätte. In Ohnesorg regte sich der Verdacht, daß einem gar nichts anderes übrigblieb. Sie hatten schließlich das gleiche auch über das Wetter gesagt. Jakob Ohnesorg war nicht so einfach zu überzeugen. Sie hatten behauptet, der Blizzard würde eine gute Deckung für die Landung abgeben. Jakob fragte sich, ob man ihm erlauben würde, die Leute wegen krimineller Untertreibung zu erschießen.
Ohnesorg blickte Sturm von der Seite her an, und seine Bedenken wuchsen. Das Gesicht des Mannes zeigte keine Spur mehr von Farbe, und er zitterte wie Espenlaub. Jakob gab Ruby einen Wink. Sie zog ihre Pelze aus und wickelte Sturm darin ein. Es schien ein wenig zu helfen. Ruby würde den Unterschied gar nicht bemerken. Sie war genau wie Jakob durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen. Ohnesorg runzelte die Stirn. Er hatte Sturm als alten Mann gesehen, als jemanden, der froh war, sich aus dem Geschäft zurückgezogen zu haben, und jetzt gerne in einer Bibliothek an einem Kaminfeuer saß, bewundernde Enkel zu den Füßen, die seinen Geschichten lauschten – aber Sturm war wirklich kaum älter als Jakob. Ohnesorg erinnerte sich noch gut an den lockenköpfigen jungen Kämpfer, der immer gelacht hatte und bereit gewesen war, sich von einem Augenblick zum anderen in das dichteste Getümmel zu stürzen. Doch das war lange her. Als Jakob bewußt wurde, wie lange, erschrak er. Sturm mußte inzwischen Mitte Fünfzig sein, und die langen harten Jahre hatten ihre Spuren an ihm hinterlassen. Vielleicht hätte er Sturm lieber doch nicht mitnehmen sollen. Sicher, Alex hatte sich freiwillig gemeldet…
Andererseits war er nie imstande gewesen, Jakob etwas abzuschlagen, der selbst nicht mehr der Jüngste war, auch wenn man berücksichtigte, daß er durch das Labyrinth gegangen und von ihm verändert worden war. Jacobs Stirnrunzeln vertiefte sich noch. Er hatte sich nie als alten Mann gesehen, trotz allem, was er durchgemacht hatte, also hatte er vermutet, daß Sturm ähnlich dachte. Aber sie waren beide keine jungen Leute mehr, verdammt! Ruby trat plötzlich aus dem Windschatten der Kapsel und starrte in den Orkan hinaus.
»Kopf hoch, Leute. Wir kriegen Gesellschaft.«
»Kannst du sie sehen?« erkundigte sich Jakob und trat neben Ruby.
»Nein. Aber ich kann sie spüren. Sie kommen aus dieser Richtung.«
Ohnesorg konzentrierte sich, doch er fühlte überhaupt nichts.
Das Labyrinth hatte ihnen allen verschiedene Fähigkeiten verliehen. Die ersten dunklen Gestalten schälten sich aus dem Schnee, und dann zwang sich auch Sturm, nach vorn zu treten und sich zu seinen Freunden zu gesellen. Es war eine Frage des Stolzes.
Schließlich standen zehn Einheimische vor den drei Rebellen, alle in dicke Pelze gehüllt, die Gesichter hinter stilisierten Tiermasken aus Leder und Metall verborgen, von denen Ohnesorg kein einziges erkannte. Nur, daß alle verdammt häßlich aussahen. Einer der Männer trat vor, musterte die drei und zog dann seine Maske ab. Ein grimmiges, bärtiges Gesicht kam zum Vorschein. Es war ein verhärmtes, hartes Gesicht, von mehreren langen, häßlichen Narben entstellt, das keine Rückschlüsse auf das Alter seines Besitzers zuließ. Die Augen in diesem Gesicht waren dunkel und sehr, sehr kalt.
»Wo steckt der Rest von Euch?« sagte der Mann rauh und blickte Ruby an.
»Wir sind alle«, erwiderte Ohnesorg gelassen. »Ihr legt uns die Situation vor Ort dar, und wenn Ihr uns überzeugen könnt, dann werden wir mit dem Untergrund in Verbindung treten, und man wird Euch Freiwillige, Waffen und Nachschub senden. Versteht mich recht – eine Menge Leute bitten uns um Hilfe, und unsere Ressourcen sind beschränkt. Wir müssen sicherstellen, daß sie dorthin gehen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Mein Name ist Jakob Ohnesorg. Dies hier ist Ruby Reise, und das ist Alexander Sturm. Macht besser einen Bogen um sie, die beiden sind bissig. Mit wem habe ich die Ehre?«
»Ihr seid Jakob Ohnesorg? « fragte der Einheimische ungläubig. »Ich dachte…«
»Ja«, unterbrach Ohnesorg bedauernd. »Das denken die meisten. Versucht einfach, mein Alter als Erfahrung zu betrachten.
Gibt es vielleicht einen anderen Ort, an dem wir unsere Konversation fortsetzen könnten? Irgendeinen Unterschlupf, wo die Temperaturen ein wenig über dem absoluten Nullpunkt liegen?«
»Selbstverständlich. Mein Name ist Langer John. Ich habe hier das Sagen. Folgt mir.«
Der Mann zog die Maske wieder vors Gesicht, wandte sich um und stapfte ohne einen weiteren Blick nach hinten los. Die anderen schlossen sich genauso schweigsam an, wie sie gekommen waren. Ohnesorg packte Sturms Arm und zog ihn hinterher. Ruby hakte sich auf der anderen Seite bei Alexander ein. Die drei stolperten durch den Blizzard und beeilten sich nach Kräften, den Langen John und seine Männer einzuholen.
Die Rettungskapsel verschwand rasch hinter einer Wand aus Schnee, und bald hatten die Neuankömmlinge jede Orientierung verloren. Wohin sie auch blickten, überall nur Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Und die dunklen Gestalten, die vor ihnen her trotteten. Die Zeit verging, und die bittere Kälte des noch immer an Wucht zunehmenden Windes schnitt wie mit Messern an ihren Gliedern. Dann verschwanden die dunklen Gestalten plötzlich vor ihren Augen, eine nach der anderen.