Michael nickte zögerlich. »Also schön. Wann steigt der Ballon?«
»Während der Zeremonie«, antwortete der Jesuit. »Live, auf den Holoschirmen des gesamten Imperiums. Es wird ein Straßenfeger werden.«
»Siehst du, Liebster«, sagte Lily zu Michael und hakte sich bei ihm unter. »Selbst dieser kleine Mistkerl von Reporter wird uns am Ende dabei helfen. Alles ist genau geplant, bis in die kleinste Einzelheit. Es kann überhaupt nichts schiefgehen.«
Toby Shreck eilte den engen Korridor entlang, warf einen Blick auf das Chrono in seinem Handgelenk und fluchte leise vor sich hin. Offiziell war Schlafenszeit in den Wohnquartieren des Fabrikkomplexes, und nach diesem Tag fühlte er sich, als könnte er für eine ganze Woche schlafen. In den Stunden seit seinem wenig erfolgreichen Gespräch mit Lily und Michael Wolf hatte er sich die Füße wund gelaufen, um so viele Interviews und Aufnahmen von der Fabrik zu filmen, wie er nur konnte.
Niemand wollte mit ihm ohne Drohungen kooperieren, und der Versuch, diese Fabrik gut aussehen zu lassen, war eine Aufgabe, die selbst einen Spitzenmann wie ihn erbleichen ließ.
Toby persönlich hatte schon attraktivere Schlachthöfe gesehen als diesen Laden. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr.
Er hatte die Gelegenheit zu einem Interview, wie es sie nur einmal im Leben eines Reporters gab, und er wollte verdammt sein, wenn er sich diese Gelegenheit durch die Finger gehen lassen würde, nur weil es ausgerechnet eine Zeit war, in der zivilisierte Menschen die Köpfe unten hatten und wilde Träume träumten. Mochten sie ihm ruhig alle die kalte Schulter zeigen, bis ihre Gelenke verspannt waren. Dieses eine Interview würde ihm die heißersehnte Popularität verschaffen.
Toby versuchte, sich noch mehr zu beeilen, doch er war bereits außer Atem. Zuviel Gewicht. Zuviel gutes Essen auf Empfängen und bei öffentlichen Ereignissen. Als Resultat besaß er nun eine gewisse Tropfenform, die zwar Stabilität im Sitzen verlieh, aber einer raschen Fortbewegung eher hinderlich war.
Schön, er war fett. Aber das spielte überhaupt keine Rolle.
Niemand würde während dieses Interviews auf ihn sehen. Toby zwang sich schwer atmend weiter voran. Flynn hatte sein Quartier auf der gegenüberliegenden Seite des Komplexes. Natürlich. Tobys Unterkunft lag in einer besser ausgestatteten Ebene.
Schließlich war Toby ein Aristokrat und Flynn ganz definitiv keiner. Toby schniefte verächtlich. Endlich kam er vor der richtigen Tür zum Stehen, lehnte sich einen Augenblick dagegen und wartete, bis er wieder zu Atem gekommen. Dann hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.
»Verschwindet«, ertönte Flynns ruhige Stimme von drinnen.
»Ich habe frei. Wenn Ihr Personal der Fabrik seid: Geht zur Hölle. Wenn Ihr Toby der Troubadour seid, dann nehmt den Expreßlift dorthin. Wenn Ihr ein Wolf seid: Dies ist eine Aufzeichnung. Wenn Ihr eine potentielle Liebhaberin seid: Hinterlaßt meinem Lektronen Namen und Anschrift. Und ein Ganzkörperfoto bitte. Kleider optional.«
»Macht schon auf, verdammt!« rief Toby ungeduldig. »Ihr werdet nicht glauben, wer sich einverstanden erklärt hat, mit uns zu reden.«
»Ist mir egal. Sagt ihnen, sie sollen zwei Aspirin nehmen und morgen früh wiederkommen. Ich habe frei, und ich rede mit niemandem, mit dem ich nicht reden will. Wenn Euch das nicht paßt, dann macht das gefälligst mit meiner Gewerkschaft aus.«
»Flynn! Es ist die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern!«
Eine kurze Pause entstand. Dann klickte das Türschloß. »Also schön, kommt herein. Auf Eure eigene Verantwortung.«
Toby knurrte etwas Unpassendes, stieß die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Er kam sechs Schritte weit, bevor er wie angewurzelt stehenblieb. Die Tür schloß sich hinter ihm und verriegelte sich erneut, doch das nahm er nicht wahr. Er hätte nicht einmal bemerkt, wenn ihm jemand eine scharfe Granate in die Unterwäsche gesteckt hätte. Das Quartier seines Kameramannes war nicht besonders groß und mit einfachen Möbeln vollgestopft, doch ein paar weibliche Handgriffe hatten bereits gereicht, um das Zimmer freundlicher wirken zu lassen. Doch das Femininste in diesem Zimmer war Flynn, der entspannt in einem langen, fließenden Cocktailkleid auf dem Bett lag, einen Marguerita in einem geeisten Glas in der einen und ein Buch mit dekadenten französischen Gedichten in der anderen Hand.
Flynn trug eine lange Lockenperücke in der Farbe von reinem Gold und war unaufdringlich, doch kunstvoll geschminkt. Seine Arbeitskleidung und die schweren Stiefel waren Netzstrümpfen und Stilettos gewichen, und seine Fingernägel waren in grellem Pink lackiert. Alles in allem sah Flynn sehr hübsch aus, und er wirkte ganz und gar entspannt. Toby schloß die Augen und schüttelte langsam den Kopf.
»Flynn, Ihr habt mir versprochen, daß Ihr das nicht tun würdet. Wir befinden uns nicht in zivilisierter Gesellschaft. Sie würden es nicht verstehen. Und die Vertreter der Kirche von Christus dem Krieger würden es ganz definitiv nicht verstehen.
Sie würden Euch auf der Stelle wegen Gotteslästerung und Degeneration exekutieren lassen und mich gleich mit, nur weil ich Euch kenne. Los, zieht Euch etwas an, das uns nicht augenblicklich um Kopf und Kragen bringt. Mutter Beatrice wartet sicher nicht ewig auf uns.«
»Husch, husch, husch!« maulte Flynn. Er kippte den Rest seines Marguerita hinunter, schob ein Lesezeichen in seinen Gedichtband und stellte Glas und Buch behutsam zur Seite, bevor er sich graziös vom Bett erhob. »Also schön. Ihr wartet draußen, während ich mir etwas Unbequemeres anziehe. Und vergeßt nicht – ich tue das für niemand anderen als die Ehrwürdige Mutter Beatrice. Die Frau ist wahrhaftig eine Heilige.«
Toby trat auf den Korridor hinaus und zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu, damit er die Unterhaltung weiterführen konnte – oder Flynn eine Warnung zuzischen, falls jemand vorbeikam. »Von allen Kameraleuten im ganzen verdammten Imperium mußte ich ausgerechnet bei Euch enden. Warum nur?«
»Weil Ihr verzweifelt nach einem guten Mann gesucht habt und weil niemand sonst mit Euch arbeiten wollte«, ertönte Flynns Stimme von drinnen. »Immerhin habt Ihr Eure Lizenz nur deswegen beantragt, weil Ihr auf der Flucht vor Eurem Onkel Gregor seid. Rein zufällig hatte auch ich es ein wenig eilig. Mein letzter Bewunderer war ein hochrangiger Mann in einem der Clans, und er lief in seinen Privatgemächern genausogern wie ich in hübschen Kleidern herum.
Ein wunderbarer Mann. Er liebte das Jodeln. Mein Gott, wie diese tiefen Töne vibrierten, wenn er den Kopf in meinem Schoß hatte und gleichzeitig sang! Und was dieser Mann mit einem Vokal alles anstellen konnte… Jedenfalls, wir hatten einen Streit und trennten uns, und er wurde mit einemmal recht besorgt, daß ich sein Geheimnis gegen einen angemessenen Preis weitererzählen könnte. Wenn auch nur ein Wort über seine privaten Neigungen nach außen dränge, würde ihn niemand in den Familien jemals wieder ernst nehmen. Ein wenig Dekadenz ist schön und gut, wenn man Aristokrat ist, aber nicht, wenn man sich damit lächerlich macht.
Als mir klar wurde, wie er über die Sache dachte, beschloß ich, daß es besser für mich wäre, wenn ich der Stadt eine Weile den Rücken kehren und mich in sicherer Entfernung verkriechen würde, bis er sich wieder beruhigt hat. Das ist der einzige Grund, ais dem ich mich bereit erklärte, mit Euch zu arbeiten, Toby Shreck.
Ihr müßt verstehen – Euer Ruf ist nicht gerade gut. Ein alternder Öffentlichkeitsarbeiter, der von einer Karriere als Reporter träumt und größenwahnsinnig ist. Nichts Persönliches, versteht mich richtig. Wenn es Euch hilft, Ihr schlagt Euch ganz gut bei dieser Sache hier. Ich habe schon mit schlechteren Männern gearbeitet.«
Toby schnitt eine Grimasse und schwieg. Flynn hatte größtenteils recht. Toby hatte die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, die Öffentlichkeitsarbeit für den alten Shreck zu erledigen. Seine Familie hatte es ihm nicht gedankt, und die Peers verachteten ihn sogar. Niemand wollte verstehen, wie anstrengend gute Öffentlichkeitsarbeit war. Aber insgeheim hatte er immer davon geträumt, ein echter Journalist zu sein, der die Wahrheit ausgrub und Betrügereien und Korruption in den gehobenen Schichten ans Licht brachte, anstatt beides auch noch zu decken.