»Aber Ihr seid hier unten in Sicherheit, oder nicht?« fragte Sturm.
»Es gibt Sicherheit, und es gibt Sicherheit«, antwortete die Halsabschneider-Marie. »Die eingeborenen Lebensformen von Technos III leben ebenso unter der Erde wie wir. Sie leben ganz tief unten, wo wir kaum jemals hingehen, aber von Zeit zu Zeit kommen sie nach oben, und dann streiten wir darum, wessen Territorium diese Tunnel sind. Wir jagen sie als Nahrung, sie jagen uns als Nahrung. Wir gewinnen häufiger als sie.
Es hilft uns, die Schwachen auszusieben. Seht Ihr diese verblaßten Flecken auf dem Boden? Wenn wir eine der Kreaturen erlegen, dann verspritzen wir ihr Blut, um unser Territorium zu markieren. Es hält die anderen Bestien von uns fern, jedenfalls für eine Weile.«
»Ihr meint, sie kommen so weit nach oben?« erkundigte sich Ruby.
»Aber selbstverständlich«, erwiderte der Lange John. »Im Frühling können wir uns manchmal kaum bewegen, ohne mit Klauen, Fängen und anderen häßlichen Körperteilen in Berührung zu kommen.«
»Gut«, sagte Ruby. »Ich kann ein wenig Übung gebrauchen.«
»Nun, das erklärt die Blutflecken überall«, sagte Sturm rasch.
»Aber was ist mit dem Bein?«
Der Lange John und die Halsabschneider-Marie blieben unvermittelt stehen und blickten zu ihm zurück. »Was für ein Bein?« fragte der Lange John.
Sturm deutet schweigend darauf, und alle blickten nach oben zu dem menschlichen Bein, vollständig bekleidet mit Hose und Stiefeln, das an der rechten Seite aus der Ecke zwischen Wand und Decke herausragte. Der Lange John verzog das Gesicht.
»Mason Elliot! Das ist dein Bezirk! Wo steckst du?«
Ein kleiner, gedrungener Mann, der bis zum Kinn in dicken Fellen steckte, trat aus einem Seitentunnel hervor. In einem Mundwinkel steckte ein häßlicher schwarzer Zigarrenstummel.
»Warum schreist du so? Ich bin nicht taub! Also schön, gnädiger Anführer, da bin ich. Was ist denn diesmal nicht in Ordnung? Hast du wieder einmal die Schlüssel verloren?«
»Was hat das Bein dort oben zu suchen?«
»Es hält die Decke zusammen. Nach dem letzten Angriff der Blutwürmer mußten wir einen Teil der Wände reparieren, und wir hatten es verdammt eilig. Uns fehlte Baumaterial, und der Leichnam kam gelegen… Außerdem mochte ihn sowieso niemand leiden. In ein paar Wochen brechen die Blutwürmer sowieso wieder durch. Wir können die Leiche dann immer noch entfernen.«
»Bis zu diesem Zeitpunkt wird sie zum Himmel stinken!« sagte der Lange John. »Ich will, daß das Bein entfernt wird, und zwar jetzt. Besorg dir eine Axt und hack es ab! Bewegung!«
»Sicher, gnädiger Anführer von uns allen.« Der stämmige Mann drückte die Zigarre mit den bloßen Fingern aus und klemmte sie hinters Ohr. Er stand noch immer da und starrte zu dem Bein hinauf, als der Lange John und die Halsabschneider-Marie die drei Neuankömmlinge weiterführten. Jakob Ohnesorg bildete den Schluß, und er war wahrscheinlich der einzige, der den stämmigen Elliott, murmeln hörte: »Und was nehme ich in Zukunft als Wegweiser?«
Der Lange John führte sie immer weiter durch die Tunnel. In Jakob Ohnesorg keimte allmählich der Verdacht, daß man sie auf Umwegen führte, damit sie später niemandem den Weg nach unten beschreiben konnten. Es gefiel ihm. Es verriet ein gutes Gespür für prinzipielle Sicherheitsmaßnahmen und eine gesunde Dosis Paranoia. Unglücklicherweise konnte Jakob sich nicht verirren, genausowenig wie Ruby Reise. Er war durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen. Jakob wußte stets genau, wo er sich befand. Allerdings hatte er nicht die Absicht, dem Langen John dieses Geheimnis zu verraten. Es würde ihn nur ärgerlich machen. Also stapfte Jakob wohlgelaunt hinter dem Mann her und genoß den Anblick, der sich ihm bot. Die Tunnel waren angenehm weit, doch die Decken hingen tief genug herab, daß jeder mit eingezogenem Kopf herumlaufen mußte. Ohnesorg vermutete, daß die Tunnel absichtlich so konstruiert worden waren, um unerwünschte Eindringlinge zu behindern und zu desorientieren. Die Rebellen waren aller Wahrscheinlichkeit nach daran gewöhnt. Ohnesorg ging es auf die Nerven. Schließlich verliefen die Tunnel flacher, und weitere Menschen tauchten auf. Alle waren dick in Leder und Felle gekleidet, und alle hielten die Waffen bereit. Sie musterten die Neuankömmlinge mit kalten, argwöhnischen Blicken und reagierten nicht auf Kopfnicken oder Lächeln.
»Gehen Eure Leute nie unbewaffnet?« fragte Sturm. »Sicher besteht so weit unten keine Gefahr?«
»Gefahr besteht immer«, erwiderte die Halsabschneider-Marie. »Wenn schon nicht wegen plötzlicher Angriffe der Sicherheitskräfte, dann wegen der Kreaturen, die tief unter uns leben. Sicher, wir haben stets Leute darauf abgestellt zu horchen, doch sie können nicht überall zugleich sein. Also sind wir stets auf einen Angriff gefaßt. Wir sind von Kindesbeinen an darauf trainiert, von einem Augenblick zum anderen um unser Leben zu kämpfen.«
»Und wann und wo schlaft und entspannt Ihr Euch, wenn ich fragen darf?« hakte Sturm nach.
»Wir entspannen uns nicht«, antwortete die Halsabschneider-Marie. »Das können wir immer noch, wenn wir tot sind.«
Ruby grinste Ohnesorg an. »Du bringst mich mit den nettesten Menschen zusammen.«
Ohnesorg lächelte zurück und konzentrierte sich auf das, was er den Rebellen zu sagen hatte, wenn sie endlich ankamen, wohin auch immer man sie führte. In ihm regte sich der starke Verdacht, daß ihn das, was er der Untergrundgemeinde zu sagen hatte, nicht sonderlich beliebt machen würde – aber es mußte gesagt werden. Jakob hatte zu viele Armeen mit heißen Worten und gefärbten Wahrheiten in den Kampf geführt, und er hatte sie sterben gesehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, weil er geglaubt hatte, daß die Sache mehr galt als das Individuum. Jakob war nicht sicher, ob er noch immer so dachte. Aber wie dem auch sein mochte, er war nicht gekommen, um sie mit schnellen Worten zu verwirren. Er war hier, um die Wahrheit zu verkünden. Ihm kam der Gedanke, daß die Menschen ihn für das, was er zu sagen hatte, vielleicht töten würden. Ohnesorg zuckte innerlich die Schultern. Sollten sie es ruhig versuchen.
Nach langer Zeit erreichten sie endlich eine relativ große Kaverne. Die Decke war mindestens sechs Meter hoch. Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm richteten sich erleichtert seufzend auf. Die kreisförmigen Wände bestanden aus massivem, poliertem Metall, und an ihnen entlang waren über das gesamte Rund mit Ausnahme des Eingangs Sitzreihen aufgestellt. Die Sitze waren vollgepackt mit Menschen, Schulter an Schulter, und harte, wachsame Blicke starrten auf die Neuankömmlinge hinab. In der Mitte des freien Raums standen ein Mann und eine Frau und warteten. Sie wirkten ebenfalls nicht besonders erfreut. Der Lange John und die Halsabschneider-Marie führten die Besucher nach vorn.
»Das hier sind Lumpen-Tom und Gespenster-Alice«, stellte der Lange John die beiden Wartenden vor. »Zusammen bilden wir den Rat des Untergrunds. Sprecht zu uns, Jakob Ohnesorg.
Erzählt uns, warum Ihr hergekommen seid.«
Jakob Ohnesorg lächelte und nickte zuerst den Ratsmitgliedern, dann der umgebenden Versammlung zu. Wenn die schiere Anzahl ihn einschüchtern sollte, dann hatten sie sich verrechnet. Er hatte schon unfreundlicheren Versammlungen unter größerem Druck gegenübergestanden. Jakob nahm sich einen Augenblick Zeit und musterte die beiden neuen Ratsmitglieder.
Der Lumpen-Tom war ein Mann von durchschnittlicher Größe und Gestalt mit nichtssagenden Gesichtszügen. Er sah nicht mehr und nicht weniger zerlumpt aus als alle anderen. Die Gespenster-Alice auf der anderen Seite wirkte wie eine wahnsinnige, in die Enge getriebene Ratte. Sie war kleinwüchsig und alt, steckte in schmierigen grauen Fellen und besaß bemerkenswert ähnlich aussehendes Haar, das in wirren Locken vom Kopf abstand. Auch sie starrte Ohnesorg aus weiten Augen an, und aus einem Mundwinkel ihrer zu einem extrem beunruhigenden Lächeln verzogenen Lippen troff ein dünner Speichelfaden. Jakob war froh, daß sie ihm nicht die Hand schütteln wollte. Er verspürte das Bedürfnis, mit Gegenständen nach ihr zu werfen, schon allein aus Prinzip. Der Lange John mißdeutete Ohnesorgs Zögern als Unsicherheit und brachte die Sache in Gang.