»Niemand weiß es genau«, antwortete Dürr & Hager #32.
Der ehemalige Fabrikklon sah genauso dünn und unterernährt aus wie immer. Auch er hatte Schwierigkeiten mit dem vielen Laufen, doch wie Sturm hatte auch er sich geweigert, aus der Sache herausgehalten zu werden. Logischerweise waren die beiden Männer sich dadurch nähergekommen. »Die einzigen Karten befinden sich in den Köpfen der Ausgestoßenen, und selbst von ihnen kennt niemand den gesamten Plan. Auf diese Weise sind wir geschützt, wenn einige von uns in Gefangenschaft geraten. Die Ausgestoßenen graben seit Jahrhunderten an diesen Tunnels, reparieren alte und errichten neue. Die Karten ändern sich praktisch laufend. Manchmal denke ich, ich brauche schon einen Führer, wenn ich nur in den frühen Morgenstunden auf die Toilette muß.
Die Sicherheitskräfte der Wolfs graben ebenfalls Tunnel, was die Sache noch komplizierter macht. Manchmal treffen die Grabungsmannschaften aufeinander, und dann bricht die Hölle los. Der Krieg geht auch hier unten weiter. Tunnelratten, die sich in der Dunkelheit mit den Klauen beharken. Die Söldner halten es nicht lange aus in den Tunnels. Sie ertragen die ständige Dunkelheit und Enge nicht. Der Druck macht sie verrückt.
Den Ausgestoßenen gefällt es im Gegensatz dazu hier unten sogar ausgesprochen gut. Die schützenden Schichten aus Gestein und Metall geben ihnen ein sicheres Gefühl. Verrückte Bastarde. Womit ich niemanden beleidigen will, Leute.«
Die vielleicht zwanzig Ausgestoßenen, die mit ihnen unterwegs waren, lächelten verständnisvoll. Keiner fühlte sich wegen der Worte von Dürr & Hager #32 beleidigt. Alexander Sturm fand schließlich genug Atem für eine weitere Frage.
»Wie tief reichen diese Tunnel? Mir kommt es vor, als würden wir seit Stunden immer tiefer steigen. Noch ein wenig weiter, und ich benötige einen Aufzug, um wieder an die Oberfläche zurückzukehren.«
»Die Oberfläche muß heute ohne uns auskommen«, erwiderte die Gespenster-Alice. Sie hatte eine gewisse Zuneigung zu Sturm entwickelt und hängte sich an ihn, wann immer möglich – zu seinem Mißvergnügen. Alice war schließlich alt, klein und häßlich, und ihre Felle waren nicht mehr gewaschen worden, seit man sie ihren ursprünglichen Trägern vom Leib gezogen hatte. Und in ihren Augen stand der Wahnsinn so deutlich geschrieben, daß jedermann ihn sehen konnte. Alice lächelte Sturm kumpelhaft an und versuchte, seine Hand zu nehmen. Er zog sie mit lang geübter Geschicklichkeit zurück. Es schien ihr nichts auszumachen.
»Wir sind unterwegs zu einer unserer zahlreichen Versammlungshöhlen«, plapperte sie glücklich drauflos. »Es wird Zeit, daß du siehst, wo die wirklichen Entscheidungen gefällt werden. Mach dir keine Sorgen; es ist nicht mehr weit. Dort unten leben gefährliche Wesen. Kreaturen, die sich an ihre Umgebung und an die Dunkelheit angepaßt haben, weit weg vom Wetter und vom Krieg. Meistens lassen wir sie ungestört, und sie massakrieren uns nicht. Keine Angst, mein Lieber. Halt dich nur bei der alten Gespenster-Alice. Bei ihr bist du sicher.«
Sturm lächelte schwach. Er fühlte sich überhaupt nicht sicher. Entschlossen richtete er den Blick nach vorn, in der Hoffnung, eine weitere Unterhaltung mit der Alten zu vermeiden.
Ohnesorg mußte ein Grinsen unterdrücken. Sturm war in seinen jungen Tagen ein richtiger Schürzenjäger gewesen. Neben Jakob seufzte Ruby schwer, und Ohnesorg wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu. Sie schnitt eine Grimasse, und ihre Mundwinkel bogen sich schmollend nach unten.
»Ich hasse es, zu Fuß zu gehen«, sagte sie beiläufig. »Ich bin Kopfgeldjägerin und keine Gesundheitsfanatikerin. Wo stecken nur all diese Tunnelratten und tödlichen Kreaturen? Ich könnte dringend ein wenig Abwechslung gebrauchen. Ich bin schließlich nicht als Tourist nach Technos III gekommen. Wann kann ich endlich wieder jemanden oder etwas töten?«
»Ich mag sie«, meldete sich Dürr & Hager #32 zu Wort. »Sie ist aus dem richtigen Holz geschnitzt.«
Die Rebellen marschierten weiter. Und weiter. Sturm hatte immer größere Schwierigkeiten, das Tempo mitzuhalten, selbst mit der aufmunternden Gespenster-Alice an seiner Seite. Ohnesorg hatte Schuldgefühle. Mit jedem Tag sah er jünger aus und fühlte sich auch so, und Sturm wirkte älter. Einst waren sie Waffenbrüder gewesen, doch inzwischen sahen sie eher aus wie Vater und Sohn. Sturm hatte bisher noch nichts gesagt, aber Ohnesorg wußte, daß sein alter Freund sich der wachsenden Unterschiede zwischen ihnen beiden bewußt war. Ohnesorg versuchte, sich deswegen nicht zu sehr den Kopf zu zerbrechen. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, daß er vielleicht zu einer ganz anderen Person werden könnte. Auch dann nicht, wenn er sich zum ersten Mal seit Jahren wieder lebendig fühlte. Jakob ließ sich zurückfallen und ging neben Sturm her, und im gleichen Augenblick überlegte er, ob aus Freundschaft oder Mitleid.
»Warum mußten wir nur jemals herkommen?« fragte ihn Sturm leise. »Krieg ist eine Sache für junge Männer. Wir sind zu alt dafür, Jakob. Wir sollten in einer Taverne an einem warmen Feuer sitzen und unglaubliche Geschichten aus unserer Jugend erzählen. Wir haben uns das verdient. Wir haben genug Blut vergossen und genügend Schlachten geschlagen. Warum geht das jetzt alles wieder von vorne los?«
»Weil der Krieg noch nicht vorüber ist«, erwiderte Jakob Ohnesorg. »Wir haben einen Eid geschworen, erinnerst du dich? Wir schworen auf unser Blut und unsere Ehre, daß wir gegen das Imperium kämpfen, bis es entweder fällt oder wir tot sind.«
»Das ist ein Eid, wie junge Männer ihn schwören«, sagte Sturm. »Junge Männer, die nichts über den Krieg, die Politik oder die Realitäten wissen, die im Imperium herrschen.«
»Willst du damit sagen, daß du nicht mehr an unsere Sache glaubst?«
»Natürlich nicht! Ich bin hier, oder etwa nicht? Ich sage nur, daß es an der Zeit ist, jemand anderen die Fahne tragen zu lassen. Jemanden, der jünger ist, dem die Kälte in den Knochen nichts ausmacht und der nicht jeden Morgen aufwacht und sich beinahe die Lungen aus dem Leib hustet. Wir haben unseren Teil getan. Und ich bin zu alt, um auf einer fremden Welt neben fremden Leuten zu sterben, während ich darum kämpfe, ein paar Klone aus einer Fabrik zu befreien!«
»Du wirst bald neue Kraft finden«, entgegnete Ohnesorg ohne rechte Überzeugung. »Dann wirst du dich wieder besser fühlen.«
»Hör verdammt noch mal auf, so gönnerhaft mit mir zu reden, Ohnesorg«, brauste Sturm auf. Danach schritten die beiden Freunde für eine Weile schweigend nebeneinander her… …bis der Ausgestoßene an der Spitze unvermittelt stehenblieb und die Hand hob, um den hinter ihm Gehenden ein Zeichen zu geben. Alles stand leise im Lichtschein der Laternen beisammen, starrte in die Finsternis voraus und lauschte angestrengt.
Sturm blickte sich besorgt um, doch Ohnesorg und die Gespenster-Alice waren zu sehr mit Lauschen beschäftigt, um auf ihn zu achten. Ohnesorg runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Dann griff er mit seinen veränderten Sinnen hinaus. Von irgendwo voraus im Tunnel konnte er ein leises, regelmäßiges Stapfen hören, das sich immer und immer wieder selbst überlagerte.
»Was ist das?« fragte er leise. »Was kommt da auf uns zu?«
»Tunnelratten der Wolfs«, antwortete die Gespenster-Alice.
»Sie besitzen Geräte, mit denen sie Bewegungen in der näheren Umgebung feststellen können. Sie sind bereits ziemlich nah.
Macht Euch bereit.«
Im gleichen Augenblick hatte jeder eine Waffe in der Hand.
Meist Schwerter oder Äxte und hin und wieder eine stachelbewehrte Kette. Ohnesorg und Ruby Reise stellten sich automatisch nebeneinander auf, die Schwerter bereit, und überließen Sturm sich selbst. Sturm starrte auf ihre schweigenden Rücken und hob unsicher das eigene Schwert. Das Stapfen kam näher und näher. Ohnesorgs freie Hand schwebte über dem Disruptor an seiner Hüfte, doch er zog die Waffe nicht. Die Vorstellung eines querschlagenden Energiestrahls in diesem beengten Raum gefiel ihm überhaupt nicht. Er hoffte nur, die Soldaten der Wolfs würden genauso darüber denken wie er. Die Wand zu seiner Rechten brach plötzlich vom Boden bis zur Decke auseinander, und Männer in gepanzerten Kampfanzügen drängten in den Tunnel. Sie bewegten sich überraschend schnell unter dem leisen Wimmern der unterstützenden Servomechanismen und gingen mit massiven Äxten und Langschwertern, die so schwer waren, daß sie nur mit Hilfe der servounterstützten Kampfanzüge handhabbar waren, auf die dicht zusammengedrängte Gruppe von Rebellen los.