»Du siehst jünger aus«, bemerkte Ruby.
Es war eine Untertreibung, und sie beide wußten es. Ohnesorg hatte in den letzten Wochen zwanzig Jahre harter Erfahrungen wettgemacht und sah inzwischen aus wie ein Mann Ende Dreißig. Seine Gestalt war mit neuen Muskeln bepackt, und neue Energie brannte in ihm. Sein Gesicht war nicht mehr die hagere, ausgezehrte Maske von einst, obwohl viele der harten Linien geblieben waren. Alles in allem war er inzwischen unendlich weit von dem zerbrochenen Wrack entfernt, das Ruby auf Nebelwelt kennengelernt hatte.
»Ich fühle mich auch jünger«, antwortete Ohnesorg. »Stärker, schneller, ausdauernder. Ich fühle mich wie früher, als ich zu einer Legende wurde.«
»Kann es Eifersucht sein?« fragte Ruby. »Weil du jünger bist und er nicht?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich beginne eben erst, mich an einige Dinge über Alexander zu erinnern. Gegen Ende verlor er das Vertrauen. Er glaubte nicht länger an unsere Sache und war nicht mehr bereit, sein Leben dafür zu geben. Wir haben Jahrzehnte gegen das Imperium gekämpft und nichts erreicht. Alex wollte aufhören und jüngeren Männern Platz machen. Er sehnte sich nach Behaglichkeit und einem leichteren Leben. Er dachte, er hätte es sich verdient. Wir wurden beide zu alt für das Schlachtfeld, obwohl ich es damals nicht zugeben wollte.
Ich führte meine Leute in die Schlacht von Eisfels, und er kam mit mir; nicht aus Überzeugung, sondern aus Loyalität gegenüber einem alten Freund. Er war immer ein guter Mann, wenn es darauf ankam. Wir wurden abgeschlachtet. Ausgelöscht. Ich glaube mich zu erinnern, daß Alex am Ende davonrannte. Ich lief nicht und wurde gefangengenommen. Also hatte Alex wahrscheinlich recht.
Danach verlor ich ihn aus den Augen, bis er als Repräsentant der Untergrundbewegung von Golgatha wieder auftauchte. Ich hätte wissen müssen, daß er unsere Sache niemals vollkommen aufgeben konnte. Doch jetzt sind wir wieder da, kämpfen erneut gemeinsam unseren Kampf – nur, daß ich der gleiche bin wie früher, und er ist es nicht. Ich bin wieder eine Legende, und Alex ist nur ein alter Mann, dem das Schwert zu schwer ist und dem die Luft fehlt. Vielleicht erinnerte er sich nur an Eisfels, als er davonlief und ich nicht. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch eine falsche Erinnerung sein. Ich weiß nicht mehr viel über Eisfels oder sonst irgend etwas aus dieser Zeit meines Lebens.«
»Was mich kaum überrascht, wenn man bedenkt, was die Imperialen Hirntechs mit dir angestellt haben«, sagte Ruby.
»Sie hatten dich verdammt lang in den Klauen, und diese kranken Bastarde können jedem den Verstand rauben. Du hast Glück, daß du normal geblieben bist.«
»Manchmal frage ich mich, ob ich das wirklich bin. Es gibt zu viele Orte in meinem Verstand, wo ich nicht mehr hinsehen kann. Die Hirntechs könnten mir alle möglichen Kontrollworte oder Fernsteuerungsmechanismen eingepflanzt haben, und ich würde es erst in dem Augenblick erfahren, wo sie aktiviert werden. Du hast gesehen, was dieser Renegat Ozymandius mit Owen und Hazel in der Stadt der Hadenmänner angestellt hat.
Ich könnte eine Bombe sein, die nur darauf wartet, dort loszugehen, wo sie den größten Schaden anrichtet.«
»Du bist ein ganz schön morbider Kerl, weißt du das?
Manchmal frage ich mich, warum ich bei dir bleibe.«
»Weil ich dich mit meinem Charme und meinem Charisma blende.«
»Du träumst wohl? Aber im Ernst, ich bewundere das, was du aus deinem Leben gemacht hast. Du hast etwas gefunden, an das du glauben konntest, und du hast dein Leben dafür eingesetzt, immer und immer wieder. Ich habe niemals an etwas anderes als an harte Währung geglaubt. Ehre verblaßt, und Mut geht dahin, aber mit Gold kannst du immer deine Rechnungen bezahlen. Vielleicht hoffe ich ja auch nur, daß ein wenig von diesem Heldenkram auf mich abfärbt, wenn ich lange genug bei dir bleibe.«
»Ruby, warum machst du dich immer kleiner, als du bist?«
Sie zuckte die Schultern. »Es ist eine dreckige Arbeit, aber irgend jemand muß sie machen. Stell mir keine Fragen, Jakob.
Ich weiß keine Antworten. Ich bin hier, weil ich hier sein will.
Gib dich damit zufrieden.«
»Ich bin nicht der einzige, der sich verändert. Dir geht es genauso, Ruby. Ob es dir nun gefällt oder nicht, du wirst eine Heldin und Teil der Legende wie ich.«
»Verdammt noch mal, ich hoffe nicht. Nach meiner Erfahrung sterben Helden einen ehrenvollen, aber tragischen und vor allem viel zu frühen Tod. Ich schätze, ich lasse diesen Teil der Legende lieber aus. Ich wäre lieber der vertrauenswürdige Kumpan, der die guten Ratschläge erteilt und schlagfertige Antworten zu geben weiß und, nachdem sich der Staub gelegt hat, durch seine von einem Ghostwriter verfaßten und mit Hilfe einer gut gemachten Werbekampagne publik gemachten Memoiren ein Vermögen verdient. Ich spüre jedenfalls keine Veränderungen an mir außer denjenigen, die das Labyrinth des Wahnsinns an mir vollzogen hat. Du bist nicht der einzige, Jakob, der sich jünger fühlt. Bei mir fällt es nicht so auf, aber ich schätze, ich bin gut fünf Jahre jünger geworden. Ich bin schneller, stärker und geistesgegenwärtiger. Wenn ich kämpfe, habe ich das Gefühl, als würden die anderen sich in Zeitlupe bewegen. Außerdem erhole ich mich schneller als früher. Einem Kämpfer fallen solche Dinge auf. Aber Jakob, ich mache mir auch meine Gedanken wegen dieser Verjüngung. Ich meine, wo soll es enden? Werden wir wieder zu Kindern? Oder zu Säuglingen? Was?«
»Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns mit uns angestellt hat, es dauert noch an«, entgegnete Jakob Ohnesorg nachdenklich. »Auch wenn das Labyrinth nicht mehr länger existiert. Wir müssen davon ausgehen, daß ein Zweck hinter alledem steckt. Ich schätze, der Prozeß soll uns verfeinern und die besten und stärksten Seiten von uns hervorbringen, zu denen wir imstande sind. Die Veränderungen finden nicht allein auf physischer Ebene statt, vergiß das nicht.«
»Ja, ich weiß. Ich stehe irgendwie mit dir in Verbindung, und auch mit den anderen. Ich weiß immer genau, wo ihr seid, selbst wenn ihr euch nicht in der Nähe aufhaltet. Manchmal weiß ich sogar, was ihr gerade denkt. Oder fühlt. Du schmutziger alter Kerl! Und manchmal, während eines Kampfes, weiß ich schon vorher, aus welcher Richtung der nächste Angriff kommt, wohin ein Schwertstreich geht oder was hinter mir passiert. Sehr eigenartig. Ich war immer eine gute Kämpferin, aber das Labyrinth macht mich zu weit mehr als das.«
»Mit einfachen Worten«, sagte Ohnesorg, »wir werden zu Übermenschen.«
»Oder nichtmenschlich«, erwiderte Ruby. »Das Labyrinth des Wahnsinns war schließlich auch ein nichtmenschliches Gebilde, oder? Vielleicht war es so programmiert, daß es jeden und alles, was hindurchging, zu einer Kopie der Rasse verwandelte, die es konstruierte. Am Ende wachsen uns sechs Arme und Antennen aus den Ohren.«
»Und du hast den Nerv zu behaupten, ich wäre ein morbider Kerl! Wir wollen uns über diese Dinge Gedanken machen, wenn sie geschehen, ja? Im Augenblick haben wir weiß Gott andere Sorgen.«
»Zum Beispiel?«
»Versteh mich nicht falsch, Ruby, aber… Mir ist aufgefallen, daß du niemals Gefangene machst. Selbst früher, bevor wir hergekommen sind, hast du niemals nur gekämpft, um deine Gegner zu verwunden und aufzuhalten. Du tötest sie immer.«
»So ist es am besten«, erwiderte Ruby brüsk. »Ein toter Mann kann sich nicht plötzlich wieder aufrichten und dir ein Messer zwischen die Rippen stoßen.«
»Ein toter Mann kann sich aber auch nicht unserer Sache anschließen. Und er kann nicht die Irrtümer erkennen, denen er aufgesessen ist. Was, wenn wir dich damals in Nebelhafen getötet hätten, als du uns angegriffen hast? Nein; falls und wenn wir die Löwenstein stürzen wollen, dann müssen wir ihr System durch eines ersetzen, das effizient regieren kann, andernfalls herrscht das Chaos. Und das bedeutet wiederum, daß wir auf die gleichen Leute zurückgreifen müssen, auf die sich bereits Löwenstein verlassen hat, damit die Räder nicht stehenbleiben. Wir können nicht einfach jeden auf der anderen Seite umbringen. Wir werden einige von ihnen brauchen.«