Der Mann im Spiegel besaß keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem alten Finlay Feldglöck. Früher, in den alten Tagen, hatte er ausgesehen wie ein schrillbunter Paradiesvogel. Groß gewachsen, anmutig und modisch auf dem neuesten Stand, von den polierten, engen Lederstiefeln bis zur Samtmütze. Als Finlay das letzte Mal bei Hof gewesen war, hatte er einen langen Frack getragen, das Gesicht mit fluoreszierenden Farben bemalt, das Haar metallisiert, einen juwelenbesetzten Kneifer auf der Nase, den er überhaupt nicht benötigte, und jeder hatte sich vor ihm als einem der großen Meister der Mode verbeugt. Und jetzt? So weit war es mit ihm gekommen!
Das Gesicht seines Spiegelbildes hätte jedermann gehören können. Keinerlei Kosmetik, um kleinere Narben oder sonstige Defekte zu überdecken oder die Struktur der Wangenknochen zu betonen. Keine leuchtenden Farben, die unübersehbar Status und Rang verkündeten oder die Aufmerksamkeit anderer stolzer Pfauen auf sich zog. Finlays Gesicht war in diesen Tagen hager und verhärmt. Tiefe Linien hatten sich um Augen und Mund gegraben. Er war eben erst fünfundzwanzig und wirkte zehn Jahre älter. Sein langes Haar war so hell, daß es beinahe farblos schien. Am Hof hatte es noch in leuchtend metallischem Bronze geschimmert und sich in sanft gewellten Locken über seine Schultern gelegt. Jetzt hing es schlaff und leblos herab, und es war ihm egal. Um die Stirn hatte Finlay ein einfaches Lederband geschlungen, um das Haar aus dem Gesicht zu halten, das war auch schon alles. Er wußte, daß er die Haare besser abgeschnitten hätte. Es wäre einfach praktischer gewesen. Aber Finlay konnte sich nicht zu diesem Schritt durchringen. Die Haare waren seine letzte Verbindung zu dem berüchtigten Stutzer von einst.
Früher waren Finlays Kleider modisch bis zum Exzeß gewesen. Heute steckte er in einem zu großen Thermoanzug mit einem Chamäleonschaltkreis, der stets die Farben der Umgebung annahm. Finlay grinste. Das Gesicht in der reflektierenden Fläche grinste zurück, doch Finlay erkannte es noch immer nicht. Dieser Mann dort sah hart aus – und verdammt gefährlich obendrein. Seine Augen blickten kalt und vorsichtig, und in seinem Grinsen lag ein trauriger Humor. Finlay hätte ein ehemaliger Soldat oder Söldner sein können, ein bezahlter Schläger, der für den richtigen Preis jeden Auftrag annahm. Er sah aus wie die gefährlichste aller Sorten von Männern: die, die nichts mehr zu verlieren hatte.
Nein, dachte Finlay entschieden und wandte den Blick ab. Er besaß noch immer seine Liebe zu Evangeline und die Sache, für die er jetzt kämpfte. Als Adliger hatte er nie einen Gedanken an die Massen unter ihm verschwendet, ganz zu schweigen an die Nichtpersonen, die Esper und Klone, die Untersten der Unteren. Dann hatte er das Entsetzen von Silo Neun erlebt, auch bekannt als Hölle des Wurmwächters, wo abtrünnige Esper gefangengehalten, gefoltert und schließlich exekutiert wurden. Was Finlay dort gesehen hatte, hatte sein Leben für immer verändert. Jetzt kämpfte er um Gerechtigkeit für alle, und wenn er das nicht erreichen konnte, würde er sich auch mit Rache zufriedengeben.
Genau aus diesem Grund war Finlay hierher zum Silvestri-Turm gekommen. Er zwang sich auf die Beine und setzte seinen Aufstieg fort. Der junge Feldglöck zitterte an allen Gliedern von der Anstrengung, doch irgendwie kam er trotzdem voran. Seine Verbindungsleute im Untergrund hatten ihm eine Auswahl an Drogen angeboten, kleine chemische Wunder, die müde Muskeln wieder munter machten, doch Finlay hatte abgelehnt. Er hatte schon in der Arena niemals künstlichen Mut gebraucht, und wenn er auch nicht mehr der Mann von einst war, so war Finlay doch noch immer der Beste, den der Untergrund aufzubieten hatte. Finlay lachte in sich hinein, während er immer weiter hinaufstieg und sich wie ein flinker Schatten über vorstehende Wasserspeier und verzerrte Steingrimassen schwang, während der Chamäleonschaltkreis seine Anzugfarbe haargenau auf die der Umgebung abstimmte, um ihn vor dem Hintergrund beinahe unsichtbar zu machen.
Vielleicht würde der Silvestri-Clan nach dieser Sache das äußere Erscheinungsbild seines Turms überdenken. Gotischer Rokoko war schön und gut und pittoresk, aber ein Feind konnte sich auch ziemlich leicht anschleichen. An der Fassade eines Techbauwerks wie zum Beispiel dem Turm der Shrecks wäre Finlay innerhalb einer Minute entdeckt worden. Aber wie alle anderen auch, so verließ sich auch der Silvestri-Clan auf teure Sicherheitssysteme, welche im Grunde genommen vollkommen ausreichten – meistens jedenfalls. Sie waren jedenfalls gut genug, um jeden gewöhnlichen Dieb, Spion oder Saboteur abzuschrecken. Sie reichten vollkommen aus, um jeden draußen zu halten – es sei denn, man besaß zufällig die Unterstützung dieser gerissenen kybernetischen Anarchisten, der Kyberratten, Gott segne ihre kleinen Hackerherzen. Genau in diesem Augenblick fütterten sie die Systeme des Silvestri-Turms mit einem Haufen beruhigender Lügen, um die Anwesenheit der lautlosen Gestalt zu verheimlichen, die an der jetzt ungeschützten Fassade hinaufkletterte.
Finlay erreichte das Ende der Leine und stützte sich freundschaftlich auf die furchteinflößende steinerne Statue eines bekannten Vorfahren der Silvestris. Dann zog er die Leine ein und wickelte sie um seinen Leib. Finlay war fertig, und das nicht nur mit dem Aufstieg, wenn man den Zustand seiner schmerzenden Arme und Beine bedachte und den feuchten Schimmer von kaltem Schweiß auf seiner Stirn. Er verzog das Gesicht und atmete tief durch. Der junge Feldglöck hatte seine Muskeln als Gladiator in der Arena gestählt, und trotz der erzwungenen Abwesenheit des mörderischen Sandes war er stolz darauf, noch so gut in Form zu sein. Allein der Aufstieg hätte jeden anderen umgebracht. Finlay dehnte die Muskeln in Armen und Beinen und verdrängte den Schmerz. Er war beinahe an seinem Ziel. Nur noch ein wenig höher. Vorsichtig schwang er sich an der Statue vorbei nach draußen und setzte seinen Weg über die Fassade fort, während er jeden Vorsprung als Halt und Stütze ausnutzte. Vergiß den Schmerz in den brennenden Muskeln und deinem Rücken. Vergiß den unsicheren Halt, den schneidenden Wind und den langen Sturz nach unten.
Klettere einfach weiter, Fuß um Fuß, sei wachsam und konzentriere dich auf deine Mission… und auf den Mord, den du auszuführen hast.
Die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens hatte die Welt Finlay Feldglöck nur als Stutzer gekannt. Stets auffällig bei Hofe und eine einzige große Enttäuschung für seinen Vater, einen berühmten Soldaten. Niemand hatte von seinem Geheimnis gewußt, von seinem zweiten Leben als Maskierter Gladiator auch nur geahnt, unbesiegter Champion der Arena Golgathas – mit Ausnahme des Mannes, der sein Trainer war, und der Frau, die ihn liebte. Als die Umstände ihn gezwungen hatten, um sein Leben zu fliehen, hatte Finlay dem Untergrund sein Können als Kämpfer enthüllen müssen. Es war die einzige Münze gewesen, mit der er ihre Anerkennung hatte kaufen können. Im Untergrund gab es keinen Platz für Mitläufer. Ganz besonders dann nicht, wenn man weder Klon noch Esper war, sondern Mensch und sonst nichts. Bloß Mensch. Der Untergrund hatte Finlay auf eine Mission gesandt, allein und ohne Unterstützung, damit er seinen Wert beweisen oder sterben konnte, und als Finlay mit einer blutigen Spur und dem Sieg in der Tasche zurückgekehrt war, da hatten sie einfach mit den Schultern gezuckt und ihn im Untergrund aufgenommen. Aber sie wußten dennoch nichts von seiner geheimen Identität als Maskierter Gladiator. Es ging sie nichts an.
Finlay hatte ihnen auch nichts von seiner Not erzählt, der Sucht nach Nervenkitzel, Gewalt und plötzlichem Tod, die ihn vorderhand in die Arena getrieben hatte. Es gab Zeiten, da fühlte Finlay sich nur lebendig, wenn er anderes Leben vernichtete. Evangeline Shreck hatte dazu geschwiegen, wenn sie bei ihm gewesen war, oder sich damit abgefunden. Ihre Liebe war alles gewesen, was Finlay gebraucht oder sich jemals gewünscht hatte. Doch die Zeit, die die beiden miteinander verbringen konnten, waren immer nur kurze verstohlene Augenblicke gewesen. Ihre Familien lagen bereits seit Generationen miteinander im Streit. Die beiden jungen Liebenden hatten stets gewußt, daß sie niemals auf eine gemeinsame Zukunft hoffen durften. Aber anstatt sie zu ersticken, hatte diese Vorahnung auf geheimnisvolle Weise die Flamme ihrer Liebe nur noch stärker entfacht, und der Mann, der einst nur lebte, um andere zu töten, lebte heute für die Augenblicke des Friedens, den er in Evangelines Armen fand.