Doch jetzt hatte Finlay sich in den Untergrund verkrochen, und Evangeline war in die Welt darüber zurückgekehrt, in den Turm der Shrecks und zu ihrem entsetzlichen Vater. Ihre Position und ihre Verbindungen zu den Bewohnern der pastellfarbenen Türme machten Evangeline zu wertvoll, als daß sie sich so lange zurückziehen konnte, wie sie wollte. Also hatten die Liebenden sich ein letztes Mal umarmt und mit den Tränen gekämpft, als sie sich mit erstickten Stimmen voneinander verabschiedet hatten. Finlay hatte Evangeline begleitet, so weit er konnte, dann war er stehengeblieben und hatte ihr hinterhergesehen, bis sie in der Ferne verschwunden war. Sie hatten sich versprochen, sich wiederzusehen, aber keiner von beiden glaubte wirklich daran. Happy-Ends waren anderen Menschen vorbehalten. Finlay Feldglöck ging allein zurück in den Untergrund, und wenn ein Teil von ihm an diesem Tag gestorben war, so behielt er es für sich. All das hatte jedoch nichts damit zu tun, daß Finlay der Mörder war, den der Untergrund so dringend für seinen Kampf benötigte.
Finlay hätte sich nie als Rebellen betrachtet. Er hatte nie über die Gesellschaft nachgedacht, in der er sich bewegt hatte, jedenfalls nicht mehr, als ein Fisch über das Wasser nachdenkt, in dem er schwimmt. Finlay hatte seine Privilegien immer als selbstverständlich hingenommen, und er hatte sich nie einen Dreck um diejenigen geschert, deren Arbeit und Leid sein Leben erst ermöglichten. Er war ein Aristokrat gewesen, vor dem andere Aristokraten sich verbeugt hatten, der Erbe einer der mächtigsten Familien des Imperiums. Finlay Feldglöck hatte Macht und Reichtümer jenseits aller Vorstellungskraft besessen.
Bis die Wolfs gekommen waren. Sie hatten die Feldglöcks niedergemetzelt und in alle Winde verstreut. Finlay war mit einem Schlag zu einem der unzähligen Gesichter auf der Flucht geworden, ständig die Wolfs und ihre gedungenen Mörder im Nacken, die ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umbringen würden. Er war nur noch im Untergrund sicher, dem er zutiefst mißtraute und dessen Ideale ihn kaltließen. Finlay verstand den Haß seiner neuen Verbündeten auf das System.
Was man den Klonen und Espern in der Hölle des Wurmwächters angetan hatte, war unverzeihlich, ganz egal, aus welcher Sicht man die Dinge betrachtete. Die Foltern und das Leid, das Finlay hatte sehen müssen, hatten selbst seinen an vieles gewöhnten Magen zum Rebellieren gebracht. Er benötigte ein wenig länger, um zu erkennen, daß Klone und Esper mit jedem Tag ihres Lebens ähnliches, wenn auch nicht ganz so Entsetzliches erlebten, ob sie in Silo Neun gefangen gehalten wurden oder nicht. Sie waren keine Menschen. Sie waren Besitz. Und ihre Besitzer konnten alles mit ihnen anstellen, was sie wollten.
Finlay hatte es nicht anders gemacht.
Finlay hatte sich nie sehr für Politik interessiert, und er hatte auch nicht vor, in Zukunft etwas daran zu ändern. Aber er hatte einen grimmigen Respekt für die Rebellen entwickelt, und er war nur allzu bereit, für ihre Sache zu kämpfen. Das war aber auch schon beinahe alles, was er mit ihnen gemein hatte. Die Rebellen und Finlay Feldglöck hatten sich nichts zu sagen. Es war beiden Seiten auch vollkommen egal, oder sie verstanden einfach nicht, was den anderen interessierte oder bekümmerte.
Die Rebellen hielten Finlay für naiv, und Finlay hielt die Rebellen für langweilig. Er verbrachte eine Menge Zeit mit Schmollen, weil er keinen Zugang mehr zu schönen Kleidern oder bunten Parties hatte, die ihn ablenken konnten, wenn er nicht in der Arena auf Leben und Tod kämpfte. Der Untergrund besaß weder Zeit noch Mittel für nicht lebensnotwendige Dinge wie Kleidung oder Parties. Wenn Finlay nicht deswegen Schmollte, dann brütete er über die Vernichtung seines Clans und den Triumph seiner Feinde, der Wolfs, und wie es Evangeline erging ohne ihn. Alles in allem war er die meiste Zeit unausstehlich, und er wußte es – aber es war ihm egal. Also gaben sich die Anführer der Untergrundbewegung die größte Mühe, ihn mit Aufträgen zu beschäftigen, zu ihrer beider Bestem. Es war nicht sonderlich schwer. Der Untergrund besaß eine Menge Feinde, und Finlay war immer begierig auf neuen Nervenkitzel.
Also meldete er sich zu allen möglichen gefährlichen Missionen freiwillig, und der Untergrund war immer einverstanden, und beide Seiten waren zufrieden. Es war schwer zu sagen, ob Finlay oder die Anführer der Untergrundbewegung überraschter waren, daß er immer wieder lebend zurückkehrte.
Dieser Auftrag hier war ziemlich typisch. Der Untergrund hatte einen mächtigen und lautstarken Gegner zum Tode verurteilt, und Finlay war das Hinrichtungsinstrument. Nur war das Ziel dieses Mal der berühmt-berüchtigte Lord William Saint John, Stellvertreter des Hohen Lord Dram persönlich und aus diesem Grund ständig von einer kleinen Armee bestens ausgerüsteter Leibwächter und modernster Sicherheitstechnologie umgeben. Saint John bewegte sich niemals durch die Öffentlichkeit, wenn seine Leute das Gebiet nicht schon im voraus weiträumig gesichert hatten. Außerdem besaß er einen tragbaren Energieschirm für Notfälle und einen persönlichen Flieger, der ihn überall hinbringen konnte. Vollkommen undurchdringlich, die Absperrung. Es sei denn, man war verrückt, verzweifelt oder unglaublich geschickt. Wie Finlay zum Beispiel, der jeden einzelnen dieser Zustände zu verschiedenen Zeiten durchmachte, ganz wie er es gerade benötigte. Was auch ein Grund dafür war, daß er im Augenblick an der Fassade des Silvestri-Turms hinaufkletterte wie eine winzige graue Spinne an einem Baum und hoffte, daß niemand ihn entdecken würde.
Schließlich erreichte Finlay die tiefe Nische, die er auf den Konstruktionsplänen entdeckt hatte, einem weiteren Geschenk der Kyberratten. Er zog sich über die Kante in die Nische hinein und rollte sich zusammen. Sie war gerade groß genug, daß er in dieser Haltung verharren und die Straße unten weiter im Auge behalten konnte. Finlay befand sich in vielleicht fünfzig Meter Höhe. Er machte es sich bequem und wartete.
Nach den Informationen des Untergrunds würde Lord William Saint John bald auftauchen. Billy der Schläger. Billy, dessen Wort den Tod für Esper, Klone und jeden bedeutete, der ihm in die Quere kam. Billy der Schlächter, gehaßt und verabscheut von praktisch jedermann, aber unerreichbar wegen seiner Position. Man erzählte sich, daß die Eiserne Hexe sehr zufrieden mit ihm war.
Und er würde herkommen. Zum Silvestri-Turm. Würde zusammen mit seinem schwer bewaffneten Gefolge haltmachen, um seinem Freund und Alliierten, Lord Silvestri, seine Aufwartung zu machen, bevor er weiterfahren würde zur offiziellen Eröffnung eines nahegelegenen Waisenhauses. Sehr angemessen übrigens, wenn man bedachte, wie viele Waisen Saint John und seine Schergen in den letzten paar Jahren zurückgelassen hatten. Seit dem Tag, an dem Dram der offizielle Prinzgemahl von Löwenstein geworden war, hatte der Hohe Lord die meisten seiner Verpflichtungen als Oberster Krieger an seinen Stellvertreter delegieren müssen, an Saint John. Zu Billyboys neuen Aufgaben gehörte die Verfolgung und Bestrafung potentieller Rebellen sowie die Exekution abtrünniger Esper und Klone, und er erledigte seine Arbeit mit großer Effizienz und noch mehr Genuß. Blut und Tod folgten Saint John auf dem Fuß, und er war bekannt dafür, niemals Gefangene zu machen.
Grausamkeit und Folter waren sein Zeitvertreib und Gnade für ihn nur ein Fremdwort. Der Untergrund hatte einstimmig seinen Tod beschlossen. Die Exekution Saint Johns würde eine Botschaft an den Imperialen Palast bedeuten, die niemand ignorieren konnte.