Niemand würde ihm eine Träne hinterherweinen, nicht einmal seine Standesgenossen. In letzter Zeit hatte Saint John angefangen, in der Politik mitzumischen, um seine Stellung über die Position als bloßer Stellvertreter Lord Drams hinaus zu verbessern. Er war mit der üblichen Portion Schwung und Bosheit an die Sache herangegangen und hatte sich mit höhnischer Überheblichkeit Feinde unter seinen Avalen geschaffen. Die Eröffnung eines neuen Waisenhauses war eine einfache und sichere Sache. Sie gab keinen Anlaß zu neuen Kontroversen, und sie würde Saint Johns Ansehen in der Öffentlichkeit heben.
Der Mann der Tat zeigte plötzlich ein weiches Herz für große Kinderaugen. Es konnte gar nicht schiefgehen. Alle großen Fernsehstationen würden mit ihren Holokameras vor Ort sein.
Finlay grinste. Sie konnten es noch nicht wissen, aber sie würden die höchsten Einschaltquoten seit Ewigkeiten haben.
Finlay waren die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Saint John nicht entgangen. Sie waren beide Männer, die sich nach Blut und Tod sehnten, und beide waren von dem Willen beseelt, sich die Hände beim Töten schmutzig zu machen. Im Krieg, als Soldaten, wären sie Helden geworden, von allen gefeiert, hoch dekoriert mit Orden und Medaillen. Sie wären Kameraden und vielleicht sogar Freunde gewesen. Hätten im Winter zusammen an einem knisternden Lagerfeuer gesessen, mit Gläsern in den Händen, und auf alte Schlachten und gefallene Kameraden getrunken. Doch wenn jetzt Krieg war, dann kämpften Saint John und Finlay Feldglöck auf verschiedenen Seiten. Und die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen vergrößerten nur die Herausforderung.
Finlays Kopf fuhr herum. Er konnte hören, wie sich der öffentliche Aufmarsch näherte. Eine Blaskapelle in zeremonieller Uniform marschierte die Straße hinab, während sie ein demonstrativ kriegerisches, patriotisches Stück spielte. Hinter der Kapelle erschien eine volle Kompanie der persönlichen Wache Saint Johns, von Hirntechs zu Loyalität bis in den Tod konditioniert, und mittendrin ein kleiner Flieger, auf dem groß und stolz Saint John persönlich stand, lächelte und der Menge zuwinkte, die die Straßen säumte. Finlay rümpfte verächtlich die Nase. Die Massen am Straßenrand waren mit verdächtiger Hast aufgetaucht. Man konnte meinen, jemand hätte den Leuten Geld gegeben, damit sie sich genau dort versammelten, wo die Holokameras am meisten beeindruckt wurden.
Saint John sah prächtig aus, obwohl er seine normale Dienstuniform ohne jeden Orden trug. Guter Schachzug das. Sollte wohl suggerieren, daß er nur einer der Jungs war. Nur ein gewöhnlicher Soldat wie alle anderen auch, der seine Arbeit erledigte, und sonst nichts. Saint John war groß und breitschultrig, besaß eine tonnenförmige Brust und ein sympathisches Gesicht: das Beste, was die Körperläden für Geld zu liefern imstande waren. Und wenn sein Lächeln ein wenig zu ungeübt erschien und seine Augen kalt wirkten, so waren die Menschen von ihren Politikern nichts anderes gewohnt.
Finlay ignorierte die Gestalt und konzentrierte sich auf den Flieger. Die Maschine war ein ganz gewöhnlicher Gravschlitten mit Extrapanzerung und so großzügig mit kunstgeschmiedetem Metall und Juwelen geschmückt, daß selbst Finlay mit seinem exaltierten Geschmack sich ein wenig abgestoßen fühlte. Man benötigte Stil, um diese Art von Überfluß zur Schau zu stellen, und in Finlay regte sich der Verdacht, daß Saint John Stil selbst dann nicht erkennen würde, wenn er auf der Straße vor ihm auftauchen würde und ihn in die Nase biß. Nur ein weiterer Grund, den Mann zu töten und die Bevölkerung von ihm zu erlösen. Die Luft flimmerte leicht in der unmittelbaren Umgebung des Fliegers; Schutzschirme, die sicherstellten, daß die Zuschauer sich in respektvoller Entfernung hielten. Stark genug, um einen Disruptorstrahl aufzuhalten oder auch eine Explosion. Die Sicherheitsleute Saint Johns kannten sich aus in ihrem Geschäft. Allerdings hielten Schutzschirme alles draußen. Selbst die Atemluft. Also umgaben sie nur die Seiten des Fliegers und ließen oben eine Lücke, so daß Saint John nicht erstickte. Es war kein sonderlich großes Risiko. Im gleichen Augenblick, in dem sich ein anderer Flieger oder Gravschlitten von oben näherte, würde der Schutzschirm sich vollständig schließen und geschlossen bleiben, bis die potentielle Bedrohung vorüber war. Kein Problem. Außer natürlich, es gab keinen Flieger und keinen Gravschlitten, sondern nur einen einzelnen Mann, der gefährlich dicht über dem Abgrund in einer Nische des Turms über dem Flieger Saint Johns lauerte.
Finlay mußte grinsen. Er hatte die Lücke im gleichen Augenblick erkannt, in dem seine Verbindungsleute aus dem Untergrund die Sicherheitsmaßnahmen Saint Johns erklärt hatten.
Ein Angriff von oben galt als unmöglich, wenn man die ausgeklügelten Sicherheitssysteme der umgebenden Türme bedachte…, aber selbst die schlauesten Sicherheitssysteme konnten überlistet werden, wenn ein Mann bereit war, gewisse Risiken einzugehen. Und wenn es einem Mann egal war, ob er überlebte oder bei dem Anschlag starb. Die Offenheit dieses Gedankens schockierte Finlay für einen Sekundenbruchteil, hauptsächlich wegen seiner Ehrlichkeit. Er konnte ohne seine Familie oder einen Platz in der Gesellschaft leben, aber nicht ohne Evangeline. Die Ereignisse hatten sich gegen ihre Liebe verschworen, und möglicherweise würden sie sich niemals wiedersehen…, und ohne Evangeline war das Leben keinen Pfifferling mehr wert. Finlay blickte zur Straße hinunter, wo sich der Aufmarsch näherte, und sein verkniffenes Lächeln verbreiterte sich zu einem Totenkopfgrinsen. Irgend jemand würde bald sterben. Saint John ließ seinen Flieger vor dem Haupteingang des Silvestri-Turms halten, direkt unterhalb von Finlay, und bereitete sich darauf vor, mit seiner Ansprache zu beginnen. Finlay mußte nichts weiter tun als seinen Disruptor ziehen und der kleinen Kröte in den Kopf schießen.
Allerdings wäre das viel zu einfach gewesen. Finlay Feldglöck hatte einen Ruf zu verlieren.
Und er liebte es, sich die Hände schmutzig zu machen.
Eine kurze Bewegung ließ das Seil an der Fassade des Turms hinabgleiten, bis es unbemerkt über Saint Johns Kopf hing. Es besaß die gleichen Tarneigenschaften wie Finlays Chamäleonanzug, und selbst ausgeklügelte Sicherheitssysteme konnten es nicht erkennen, geschweige denn das bloße Auge. Finlay schob sich aus seiner schützenden Nische, packte das Seil fest mit der Hand und beugte sich vor. Er verharrte kurz in dieser Position, während er den Augenblick genoß, dann stieß er sich ab und glitt mit zunehmender Geschwindigkeit an der Seite des Turms nach unten. Lederne Handschuhe schützten ihn vor der Reibungshitze. Kleine Rauchwölkchen quollen zwischen dem Seil und seinen Händen hervor, während er sich dem Opfer näherte.
Finlay wartete bis zum allerletzten Augenblick, bevor er seinen Griff um das Seil wieder schloß und den Absturz bremste. Er löste eine Hand und zog den Dolch aus dem Gürtel. In diesem Augenblick mußte Saint John etwas gehört oder gespürt haben.
Er blickte nach oben, und es war die einfachste Sache der Welt für Finlay, das Seil ganz loszulassen, hinunterzuspringen und den Dolch sauber durch Saint Johns Auge mitten in sein Gehirn zu stoßen.
Der Lord bäumte sich auf, die Arme zuckten, doch er war bereits tot. Finlay landete hart auf den Füßen. Seine Muskeln absorbierten den Aufprall. Er riß den Dolch aus Saint Johns Auge, und ein Schwall von Blut sprudelte hervor. Der Leichnam fiel schlaff zu Boden, noch immer zuckend und bebend. Der Flieger schwankte weiterhin wie verrückt als Folge von Finlays plötzlicher Ankunft. Die Handvoll Leibwachen an Bord waren zu sehr damit beschäftigt, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als daß sie sich großartig gegen Finlays Schwert und Dolch hätten verteidigen können, die nun blutige Ernte hielten. Finlay hatte sein berüchtigtes Totenkopfgrinsen aufgesetzt, während er die Wachen mit gezielten Streichen angriff, immer darauf bedacht, den größtmöglichen Schaden anzurichten, ohne daß sich eine seiner Waffen in einem Knochen oder der Kleidung eines Gegners verfing. Er lachte lautlos, während er die verwirrten und schockierten Soldaten mit brutaler Geschäftsmäßigkeit niederstreckte. Wenn ihre Klingen ihm hin und wieder bedrohlich nahe kamen, scherte es Finlay einen verdammten Dreck. Er war in seinem Element. Finlay Feldglöck tat das, wozu er geboren war, und er liebte es.